„Neighbouring Sounds“ von Kleber Mendonça Filho


"O Som Ao Redor": Ein Blick auf Brasilien, auf die soziale Ungleichheit und die Hierarchieüberbleibsel eines starren Feudalsystems.

"O Som Ao Redor": Ein Blick auf Brasilien, auf die soziale Ungleichheit und die Hierarchieüberbleibsel eines starren Feudalsystems.

Die Alpträume des Mittelstandes

Spielende Kinder und Cut. Ein innig knutschendes Pärchen und Cut. Ein Auto rast aus einer Nebenstraße in ein anderes hinein. Und Cut. Rätselhafte Szenen und Schwarz-Weiß-Fotografien aus dem 19. und 20. Jahrhundert bilden den Auftakt von „O Som Ao Redor“ (engl. „Neighboring Sounds„). Die harten Schnitte, die ungewöhnlichen Kamerafahrten und vor allem die immer wieder einsetzenden, durchdringenden Geräusche, die sich langsam aber sicher zu einem alles erstickenden Lärmteppich verdichten, das sind wohl die tongebenden stilistischen Elemente des ersten Langfilms von Regisseur Kleber Mendonça Filho, der wie eine bissige Komödie beginnt und sich im Laufe seiner 120 Minuten Laufzeit zu einem geradezu bösartigen Sozialdrama steigert.

Ort des Geschehens ist ein Straßenzug im brasilianischen Recife, wo Verwandte, Freunde und Feinde neben – und miteinander leben. Schon in den ersten Szenen wird die Instabilität der sozialen Verhältnisse deutlich: João und sein One Night Stand Sofia erwachen inmitten der kalt gerauchten Überreste einer Wohnungsparty, als die Haushaltshilfe Maria mit ihren Enkeln im Schlepptau ihre Arbeit beginnt. Obwohl sich João und Maria augenscheinlich gut verstehen und ein über die Jahre gewachsenes Vertrauensverhältnis genießen, herrscht hier ein nicht zu übersehendes Ungleichgewicht – Maria ist indigen und hat ein niedriges Bildungsniveau. Sie beaufsichtigt die Enkel, ihr Sohn macht Nachtschichten in einem Kiosk und schläft ab und zu auf Joãos gemütlicher Couch. „Siehst du, er hat es doch zu etwas gebracht“, sagt João zu Maria und klopft ihr auf die Schulter, ein nicht wegzuwischender Zynismus, sobald der Zuschauer erstmals Joãos laxen Arbeitsalltag als Immobilienmakler erlebt.

Außerdem erfährt der Zuschauer vom Ennui der Mittelstandsfamilien, die Joint rauchend auf der Couch liegen und auf den großen Plasmabildschirm starren. Demgegenüber die sozial untergeordneten Dienstleister, die Wäsche bügeln und Türen öffnen, obwohl es keine nennenswerten Laufwege gibt, nur damit die traditionellen Herrschaftsbeziehungen gewahrt werden. Die Hierarchie ist hier Selbstzweck, könnte man auch sagen. Doch im routinierten Alltag lauern bereits die ersten Anzeichen einer unheilvollen Katastrophe. Der Nachbarshund bellt des nachts die Nachbarn wach und wird mit dem Voranschreiten des Plots mit Schlaftabletten, elektrischen Anti-Bell-Geräten und anderen Maßnahmen betäubt, das Autoradio Joãos neuer Flamme wird geklaut, Bias Schwester zerkratzt ihr das Gesicht, weil sie einen kleineren Plasmafernseher geliefert bekommt.

Wie gerufen erscheinen da die Jungs der selbst ernannten und gegründeten Sicherheitsfirma Segurança, die ihre Dienste für 20 Real wöchentlich anbieten und den Straßenbewohnern ein trügerisches Gefühl von Sicherheit bescheren. Zudem helfen sie betrunkenen Partygästen zur ihren Gastgebern zurück und erscheinen auch ansonsten als sympathische Zeitgenossen. Doch die Sicherheitsmänner wissen viel von den Bewohnern, mehr als nötig. Und spätestens als sie einen Jungen beim Baumklettern erwischen und mit einem harten Schlag ins Gesicht in die Flucht schlagen, wird deutlich: Es brodelt, das prekäre Gleichgewicht ist am Umkippen.

O Som Ao Redor“ würde auch als bloße Nachbarschaftsstudie funktionieren, so prägnant und treffend sind die Beziehungen untereinander hier beschrieben. Wie sich Bia (großartig: Maeve Jinkings) im Waschraum einschließt und Joint rauchend an der Waschmaschine lehnend masturbiert oder João eine Kundin abfertigt, als sie Rabatt für eine Wohnung verlangt, in der sich eine Frau das Leben nahm: die Einsamkeit des Einzelnen innerhalb der großen Wohnblocks ist lange nicht mehr so treffend bebildert worden. Als Nachbarschaftsstudie erinnert „O Som Ao Redor“ damit auch stark an Robert Altman’s „Short Cuts„, der episodenhaft die soziale Verhärtung skizziert und in einem metaphorischen und tatsächlichen Erdbeben kulminiert. Aber „O Som Ao Redor“ wagt einen sehr viel weiteren, einen unbequemeren Blick, einen Blick auf Brasilien, auf die soziale Ungleichheit und die Hierarchieüberbleibsel eines starren Feudalsystems, das das Herr-und-Sklaven-Modell immer wieder reproduziert. So werden die Wohnblockbewohner von beängstigenden Alpträumen heimgesucht, in denen sich die sozial Unterprivilegierten in die Wohlstandsräume des Mittelstandes einnisten – die vielleicht unheimlichsten und großartigsten Traumsequenzen, die es in letzter Zeit auf die Kinoleinwand geschafft haben. „Fühl dich ja nicht sicher“ ist hier die klare Botschaft, die am Schluss in der Andeutung einer Gewalttat eruptiert.

So abrupt wie „O Som Ao Redor“ beginnt, so endet er auch und lässt den Zuschauer mit dem bitteren Geschmack der Hilflosigkeit zurück. Der finale Racheakt ist nicht kathartisch, auch am nächsten Tag wird die Putzfrau wieder die Weinflaschen vom Tisch räumen und sich von João erzählen lassen, dass es so etwas Beruhigendes wie soziale Mobilität wirklich gibt.

Marie Ketzscher