Berlinale Filmkritik: „Blind“ von Eskil Vogt


Wer das Augenlicht verliert, muss das Nichtsehen mit anderen Sinnen kompensieren. Foto: Kimm Saatvedt

Wer das Augenlicht verliert, muss das Nichtsehen mit anderen Sinnen kompensieren. Foto: Kimm Saatvedt

Wer im Dunkeln steht, muss leuchten

Ingrid tanzt am Strand und schaut in den Himmel. Plötzlich taucht ein schwarzer Fleck im Sichtfeld ihres linken Auges auf. Am nächsten Tag ist er immer noch dort. Und am übernächsten Tag auch auf dem anderen Auge. Ingrid erblindet. Einfach so. Für immer. Und plötzlich ist die ganze Welt nur noch schwarz.

Das liegt nun schon eine Weile zurück. Ingrid versucht, ihr optisches Gedächtnis zu trainieren. Welche Farbe hat die Fassade des Einkaufszentrums? War es gelb oder blau? Und wie sieht die Rinde eines Baumes aus? Oder das Fell eines Hundes? Nur in ihren Träumen kann Ingrid manchmal immer noch sehen. Aufwachen ist dann besonders schmerzhaft.

Seitdem die Welt schwarz geworden ist, verlässt Ingrid die Wohnung nicht mehr. Alles scheint nun gefährlicher und unberechenbarer. Selbst das morgendliche Teekochen wird zum Unfallrisiko, regelmäßig verbrennt sie sich den prüfenden Zeigefinger am Becherrand. Ihr Mann Morten scheint sie dennoch zu lieben. Oder vielleicht bleibt er auch nur aus Mitleid bei ihr.

Wer das Augenlicht verliert, muss das Nichtsehen mit anderen Sinnen kompensieren. Das gelingt aber nicht immer. Ein stummes Lächeln kann man nicht hören, einen Blick nur selten spüren. Manche Hilfsmittel können den Alltag erleichtern. „Dunkelblau“, sagt eine elektronische Stimme, als Ingrid beim Sortieren der Wäsche ein Farberkennungsgerät an einen Pullover hält. Spezielle Handys lesen den Inhalt von Kurznachrichten laut vor. Fernsehen geht aber trotzdem noch. Wer braucht schon die banalen Bilder, wenn der Ton bereits aufdringlich genug ist?

Während Ingrid sich den Bildern der Wirklichkeit entzieht, die für sie ohnehin unsichtbar geworden sind, flüchtet sich der Dauersingle Einar in die Internetpornografie. Einar ist heimlich in seine Nachbarin Elin verliebt, die gegenüber wohnt und vor dem Scherbenhaufen ihrer gescheiterten Ehe steht. Zwischen den Dreien besteht ein magisches Band, das von ähnlichen Ängsten und Wünschen zusammengehalten wird. Und auch zwischen Morten und Elin scheint es eine Verbindung zu geben. Ingrid kann spüren, wie die beiden sich heimlich Nachrichten schicken. Oder bildet sie sich das nur ein?

In Eskil Vogts „Blind“ verschiebt sich die Unfähigkeit, das Außen zu sehen, in die Gabe, besser in sich hineinsehen zu können. Manchmal flackert die Leinwand und das Bild wird einfach schwarz. Das Starren ins dunkle Nichts schafft Gefühle der Beklemmung im eigenen Selbst, aber auch Nähe zur Figur. Mit den Bildern kommt die Erleichterung zurück. Doch wenn die äußere Welt für immer hinter einem schwarzen Vorhang verschwindet, kann nur die Fantasie die entstandene Leere wieder füllen. Dafür braucht es Mut. Vertrauen. Und Sehnsucht. Wer selbst nichts sieht, ist deswegen noch längst nicht unsichtbar. Er kann zu einem leuchtenden Stern werden, dem die eigene Vorstellungskraft den Weg aus der Dunkelheit weist.

Alina Impe