Festivalbericht: Première Brasil


Filmszene: "Chico Xavier"

Filmszene: "Chico Xavier"

Tropisches Kino und draußen liegt der Schnee

Auf dem Weg in die „Schwangere Auster“, dem Haus der Kulturen der Welt, schmilzt der Schnee unter den  Schirmlampen, tropft und manifestiert sich in Form von winzigen Löchern.  Es ist Winter geworden in Berlin, zentimeterhohes Weiß am 8. Dezember. Und während der ein oder andere  seinen Marsch ins Regierungsviertel  zur Festivaleröffnung des 2. Première  Brasil antritt, sitzen Regisseure, Produzenten und Schauspieler in Paris fest und warten auf ihren Anschlussflug nach Deutschland. Diesen Umstand heben Kuratoren und  Koordinatoren einmal mehr als nötig hervor, fast entschuldigend, dabei ist die Stimmung ausgezeichnet, auch wenn  der riesige Hauptsaal des HKWs seine Gäste schier schluckt. Es wird von einem facettenreichen Kino „fernab von Copacabana und anderen südamerikanischen Klischees“ gesprochen. Das Ganze in einem sympathischen Schuss-Gegenschuss, unterhaltsam ausbalanciert in Deutsch, Portugiesisch und Englisch.

Die Erwartungen  sind hoch, als der Projektor angeworfen wird  und der Eröffnungsfilm „Chico Xaxier“ von Daniel Filho über die Leinwand flimmert. Sein Film war ein großer Kassenerfolg in Brasilien und ist „filmisch auf hohen Niveau“, erklärt die Festivalorganisatorin Ilda Santiago. Nun, was die Zuschauer in jenen Minuten zu sehen bekommen, ist die interessante Montage eines nationalen Helden mit Kommunikationsgeschick zwischen Diesseits und  Jenseits, durchdekliniert mithilfe von Rückblenden und Archivmaterial in nostalgischem Schwarz-Weiß. Ungewohnt für europäische Sehgewohnheiten ist die fast aufdringliche Betonung der verschiedenen Zeitebenen – ein Hoch auf den Weichzeichner. Leider muss auch Regisseur Daniel Filho seine Nacht in der französischen Hauptstadt verbringen, ein Mangel an Fragen zu „Chico Xavier“ hätte sicher nicht bestanden. Zumal der Austausch zwischen Gästen und Filmemachern am eigens aufgebauten Cocktailstand möglich war. Welch wundervolle Idee! So hat sich im Haus der Kulturen der Welt doch ein wenig Copacabana-Flair eingeschlichen und der Duft von zerstoßener Limette, Rohrzucker und Minze erfrischt die weiten Hallen. Draußen jedoch noch immer Schneetreiben.

Filmszene: "Dzi Croquettes"

Filmszene: "Dzi Croquettes"

In den kommenden Festivaltagen bestätigt sich die Vielfalt der brasilianischen Filmlandschaft. 17 Spielfilme, Dokumentationen und Kurzfilme  zeigen, wie sich eine nationale Kinokultur entwickelt – thematisch und ästhetisch. Sie erzählen von der Kunst weite Flächen in urbane Räume zu verwandeln („Oscar Niemeyer, A Vida É  Um Sopro„), von jungen Mädchen, die sich auf den Straßen Rio de Janeiros tummeln („Sonhos Roubados„) und  zeigen Milchgläser in der Mikrowelle („Café Com Leite„). Die bemerkenswerte und vielfach preisgekrönte Dokumentation „Dzi Croquettes“ der Regisseurin Tatiana Issa erzählt die Geschichte einer brasilianischen Tanz- und Theatergruppe.  Hineingeboren in die  Tropicalismo-Bewegung,  wuchs Issa  inmitten einer Horde durchtrainierter Männerkörper in Glitzerkostümen auf: den Dzi Croquettes. Ihr exzentrischer Freiheitskampf für Toleranz brachte die dreizehn Jünglinge nicht nur auf die Bretter, die die Welt anno 1970 bedeuteten, sondern auch in Liza Minellis Arme und – es besteht kein kausaler Zusammenhang – viele von ihnen frühzeitig ins Grab.

Der Film lebt von den raren Videoausschnitten der Auftritte und kurzen Kommentaren. Letztere stammen zum einen von den verbliebenen Dzi Croquettes-Mitgliedern, zum anderen ist der Zuschauer gezwungen, sich eine nicht enden wollende Reihe gealterter Groupies  auszusetzen, die ihrem damaligen Lebensgefühl verbal und nonverbal Ausdruck verleihen. Es bleibt also das Theorem: Extrovertierte Künstler haben extrovertierte Fans und Liza Minellis Augen waren schon immer viel zu stark geschminkt. Das ist natürlich falsch, denn eigentlich geht es in „Dzi Croquettes“ um die Darstellung eines künstlerischen Konter gegen Zensur, Stereotype und für die Avantgarde, in der die Geschlechterzuweisungen Mann und Frau von dem Oberbegriff Mensch abgelöst werden.

1 2