Unknown Pleasures liebkost das amerikanische Independent Kino


Vincent Gallo in "Tetro"

Vincent Gallo in "Tetro"

„Frei von allen Zwängen“ mit Unknown Pleasures #3  im Babylon Mitte

Vor über 50 Jahren hob John Cassavetes mit „Shadows“ das American Independent Cinema aus der Taufe und prägte damit maßgeblich die Ära des New Hollywood und das Cinéma d’auteur. Der eingeschlagene Weg versprach Selbstbestimmung und Unabhängigkeit, frei von allen Studiozwängen. Dafür wurden auch finanzielle Einbußen in Kauf genommen. Kompromisslos Geschichten nach eigenen, individuellen Vorstellungen und Maßgaben zu erzählen, war ausdrücklicher Wille und hatte oberste Priorität. Im Unterschied zur traditionellen Einwegunterhaltung der Major Film Studios standen hier gewöhnliche Menschen im Fokus, nicht gesellschaftsfähige Außenseiter, soziale Randgruppen, Bohemiens und deren Lebenswelten. Konventionen wurden auf den Kopf gestellt, klassische Erzählstrukturen durchbrochen und bewährte Genregrenzen neu ausgerichtet. Mit Jim Jarmusch in den 80er Jahren, Spike Lee, Steven Soderbergh und Quentin Tarantino in den 90er Jahren gelang dem Genre der Sprung in den Mainstream. Nicht zuletzt waren dafür Boxoffice Hits wie „Sex, Lies and Videotapes“ und „Pulp Fiction“ verantwortlich. Die unbeugsamen Filmemacher, ihre Stories und ihre Hingabe zum cineastischen Detail, die in mancher Hinsicht in orgiastischen Bilderfluten mündete, wurden zum Vorbild der Generation X und zum neuen Mainstream.

Fast 30 Jahre später ist nun eine neue Generation junger, unabhängiger Filmemacher nachgewachsen. Darunter Aaron Katz, das enfant terrible Harmony Korine, Joe Swanberg oder die Safdie Brüder. Und auch das Genre entwickelte sich weiter und brachte Bewegungen wie das Mumblecore hervor. Mit digitalen Handkameras und einfachen Techniken holten die leisen Rebellen eine sinnliche Bescheidenheit und unaufdringliche Ästhetik in den unabhängigen amerikanischen Film zurück, in dessen Zentrum häufig die Sinnfragen der in die Jahre gekommenen Generation X und die Poesie der Gewöhnlichkeit rückten.

Hannes Brühwiler, Organisator und Kurator von Unknown Pleasures, holt den American Independent Film nun das 3. Jahr in Folge nach Berlin. Vielversprechend startet gleich der erste Tag im neuen Jahr mit einer Regie-Legende: Francis Ford Coppola eröffnet das Festival mit seinem jüngsten Film „Tetro„. Coppola, dessen gesamte Karriere vom Versuch gekennzeichnet war, „Unabhängigkeit zu erlangen, von Geldgebern wie von künstlerischen Vorgaben“ (Hannes Brühwiler), steht programmatisch für die hier ausgewählten Filme. Der komplett selbst finanzierte Film „Tetro“ ist großes Kino mit Vincent Gallo und Klaus Maria Brandauer in den Hauptrollen und erzählt ein Familiendrama um Macht, verlorene Bindungen und die Befreiung von alten Geistern. „The movie is graced with touches of the old Coppola magic.“ (Tim Robey, The Telegraph) Ein Muss für Cinephile, denn der Film hat bislang keinen Verleih und wird wohl auch keinen finden.

Filmszene: "And Everything Is Going Fine"

Filmszene: "And Everything Is Going Fine"

Mit Steven Soderberghs und Casey Afflecks neuen Filmen sind zwei Biographien im Programm. „And Everything Is Going Fine“ schildert in Archivbildern das Leben des viel beachteten Storytellers Spalding Gray (1941-2004). Die Deutschlandpremiere „I’m Still Here“ zeigt Hollywoodstar Joaquin Phoenix auf dem Weg zum HipHop-Künstler. Inzwischen heißt es, der Film sei ein durch und durch inszenierter Bluff gewesen, eine Mockumentary. Großartig sind auch die neuen Filme der jungen Filmemacher, die u.a. 2011 durch die Safdie Brüder, Matthew Porterfield mit „Hamilton„,  „Putty Hill“ oder Gregg Arakis Groteske „Kaboom“ vertreten sind. Zwei Spezialprogramme sind den derzeit wichtigsten unabhängigen Regisseuren der USA Thom Andersen und John Gianvito gewidmet, deren politische Filme es viel zu selten auf die Leinwand schaffen. Ihre aktuellen Filme stellt Unknown Pleasures in den Kontext ihrer frühen Arbeiten.

Mit „Trash Humers“ (zu deutsch: Müllficker) hat das Festival wohl einen der verstörendsten und streitbarsten, damit wohl auch zwanglosesten Filme im Programm. Bekannt für seine albtraumartige Bildersprache schuf der oft als enfant terrible bezeichnete Filmemacher und Autor Harmony Korine mit seinem neuen Film einen Trash-Horror aus Nashville/Tennessee, der an die Fotografien William Egglestons und dessen Videos aus den 70er Jahren „Stranded in Canton“ erinnert. Doch Korine ringt seinen derangierten Misanthropen Augenblicke der tiefen Berührung und bizarrer Poesie ab. Eine postapokalyptische Freakshow, deren Vorbild auch bei dem frühen John Waters zu finden ist. Oder mit den Worten eines weiteren Sonderlings im Film gesprochen: „The grizzly facts of what civilization had done to us.

Text: Susanne Teichmann

Unknown Pleasures, 1. bis 16. Januar, Babylon Mitte, www.unknownpleasures.de