Epitaph: Zum Tod von Susanne Lothar

Aber es findet nun mal statt


Susanne Lothar und Arno Frisch in "Funny Games" von Michael Haneke, Foto: Concorde

Susanne Lothar und Arno Frisch in "Funny Games" von Michael Haneke, Foto: Concorde

Für jede Lebensphilosophie ist das Leben wenn nicht das höchste, so doch ein höherer Wert. Dabei ist die Verwandlung in einen Wert ja nichts anderes als eine Versetzung in ein System von Stellenwerten. Diesen gestellten Werten widmete Susanne Lothar ihre ganze Profession. Dabei war ihre Spezialität die Umwertung. Sei es vom Urlauber zum Folteropfer in „Funny Games„, von einer Hebamme zur Missbrauchten in „Das Weiße Band“ oder einfach von einer Mutter zur Großmutter in „Madonnen„.  Scheinbar gerne ließ sie sich aus der Feldherrenperspektive beim Röcheln, Schreien, Wehleiden, Verzweifeln, Scheitern und Sterben zuschauen. Dabei sagte sie einmal in einem Interview: „Ach Gott, persönlich fasziniert mich an Gewalt und Erniedrigung gar nichts. Aber es findet nun mal statt auf der Welt. Das heißt, als Schauspieler sollte man sich damit beschäftigen, wenn man nicht nur Unterhaltung dreht.“  Ihre Figuren werden meistens mit diffusen und deskriptiven Äußerungen eingeleitet, die kaum vermuten lassen, dass sie in irgendeiner spezifischen Angelegenheit Hilfe brauchen oder das ihnen Furchtbares widerfahren wird. Ja, sie wirken oft ein wenig oberflächlich, begrenzt und scheinen der freien Assoziation nicht fähig. Passiert dann das erste mal etwas Merkwürdiges oder Unvorhergesehenes, wird es unter einer knappen Plakatierung gerafft. Erst nachdem der Schock (oder die Lähmung) und die Spaltungsvorgänge an Intensität verlieren, erwachen ihre Gefühle und dann hält sie nichts mehr zurück. Susanne Lothar war ein Nordlicht. 1960 in Hamburg geboren, unter Schauspielern aufgewachsen, bekam sie bereits mit 21 Jahren einen Vertrag beim renommierten Thalia Theater und war die erste Trägerin des Boy-Gobert-Preises.

Es folgten Engagements in Wien, Berlin und Salzburg. Natürlich galt für die Rollen im Theater genau das Selbe wie für die des Films: Die Geltung an sich ist sekundär. Wichtig ist das Sein. „Ich suche keine Resonanz, das macht mich eher dicht. Ich bin auch nicht abhängig von der Meinung von Leuten, also möglichst wenig.“ Vier mal begegnete sie beruflich Michael Haneke. Vier ausgezeichnete Filme kamen dabei heraus. Merkwürdigerweise gab die Norddeutsche als Frau Schober in der Wiener Tristesse der „Klavierspielerin“ mit ihre beste Darbietung – die Frauenrolle in Österreich, der Kulturnation, die sich über den Kult klassischer Musik definieren möchte. Aber dann wäre man vom Film und von  Elfriede Jelineks Romanvorlage weit entfernt. Es geht nicht um intellektuelle Interpretation, sondern um den kalten und exakten Blick auf das, was man in diesem etwas zu groß und bedeutend zu reich geratenen Dorf namens Wien vorfindet. Es verwundert nicht allzu stark, dass die Psychoanalyse an genau jenem Ort zu einer Wissenschaft wurde. Susanne Lothars Figuren jedenfalls sind für die freudsche Couch prädestiniert. Auf den Tag genau fünf Jahre nachdem ihr Mann Ulrich Mühe beerdigt wurde, endete ihr Leben.

1990 lernten sich die beiden bei den Salzburger Filmfestspielen kennen. Dabei sollte es doch eigentlich kein Schauspieler werden, aber das unterschiedliche Temperament half beiden, in einer Welt zurecht zu kommen für die sie zu viel Leidenschaft und zu wenig abgeklärte Routine mitbrachten. In „Funny Games“ lassen sich beide sogar zu Tode quälen. 2007 erliegt Mühe dann einem Krebsleiden. Die Arbeit in „Der Vorleser“ hatte auf sie eine therapeutische Wirkung und natürlich waren da auch ihre Kinder. „Bevor ich Kinder hatte, habe ich mich halb totschlagen und ertränken lassen, da gab es für mich keine Grenze.“ Einsicht wurde gewonnen, Wärme und intensiver Kontakt geschaffen , doch das Ekstatische war noch nicht weg. Susanne Lothar starb wirklich vor ihrer Zeit und die Welt des Kinos verliert mit ihr eine durchschlagende wie subtile Persönlichkeit.

Joris J.