interfilm Festivalbericht 2012

Stiefkinder und ihre Gatekeeper


"Julian" Wer später Großes aufdeckt, fängt auch mal klein an. Foto: interfilm

"Julian" Wer später Großes aufdeckt, fängt auch mal klein an. Foto: interfilm

Für die Veranstalter eines Filmfestivals kann das Publikum angesichts des grundlegenden Dilemmas der Programmgestaltung und der Filmauswahl entweder Fluch oder Segen sein. Stellt man sich dann selbst dem Publikum als Bestandteil zur Verfügung, um beim 28. interfilm Kurzfilmfestival Themenschwerpunkten wie „Konfrontation“, deutscher und internationaler Wettbewerb, nicht zu vergessen die regionalen Fokussierungen „Afrika“ und „Island“, beizuwohnen, gerät die Welt dort draußen zum Schema und die Innenräume eines Kinos zur Wirklichkeit. Über Manches schweigt man besser. Das ungläubige Erstaunen, das Berichte aus fremden Lebenswelten beim nicht eingeweihten Zuschauer hervorrufen, schlägt stets auf diejenigen zurück, die tatsächlich dabei gewesen und anscheinend so vertraut mit den befremdlichen Ritualen sind, dass sie, obgleich um Erholung bemüht, mit dem Geschilderten identifiziert werden. Über Manches sollte man doch besser reden.

Der Kurzfilm als Medium ist genau genommen das Stiefkind der Filmindustrie. Ja, alle Großen haben mal mit einem Kleinen angefangen, aber darüber hinaus haben sie das Image eines Werbefilms ohne Produkt. Dass das Interfilm-Festival dennoch ein solcher Publikumsmagnet ist, ist auf den ersten Blick beachtlich. Auf den zweiten Blick erinnert sich der ein oder andere an ein Adorno-Zitat:  „Amüsement ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus.“ Es wird von dem gesucht, der dem mechanisierten Arbeitsprozess ausweichen will, um ihm von Neuem gewachsen zu sein. Nach der Triebabfuhr an den Objekten (den Kurzstreifen) lassen sich die Nackenschläge in der Selbstständigkeit etwas leichter ertragen.

Gleichzeitig spiegelt die grundlegende Konfiguration der Kurzfilme den Arbeitsalltag wider: Der Selbstständige, der Praktikant, der Gelegenheitsjobber – der sich die Filmchen in ihrer Heterogenität gibt, sieht freiwillig de facto das gleiche Rattenrennen, dem er in der Arbeitswoche ausgesetzt ist. Aus dieser Perspektive existiert Identität ausschließlich als jederzeit austauschbare Staffage und was Warenmonaden auch immer denken und tun, sie bewegen sich immer nur auf einem gigantischen Maskenball. Ob die Konkurrenzmonaden beim Stelldichein ihresgleichen gegenüber mit flachen Witzen glänzen, mit Kontakten aufwarten oder mit isländischen Modetipps auftrumpfen, ist eine akzidentielle, keine substantielle Frage.

Darüber hinaus wachen Juroren mit lustigen Namen wie Grimur Hakonarson oder prätentiöser Selbstdarstellung wie Nadeshda Brennicke, dass der Ablauf keiner Störung unterworfen wird, kein Wort verletzt und kein Tun in den Bannkreis der Sensibilität des Gegenübers eingreift. Matthew Moores 13-minütiger Streifen „Julian“ war ohne Zweifel der Höhepunkt am ersten Abend. Der Schüler Julian ist aufmerksam und überkorrekt. Wenn ein Mädchen sich bei ihm über die Missetaten von anderen beschwert, meldet er es sofort dem Lehrer. Dass der ihn zum Direktor schickt, weil ihm das zu viel wird, empfindet Julian als gar nicht fair. Darüber hinaus taugt dieser Direktor nur bedingt als moralische Instanz. Julian hat eine Idee und legt damit den Grundstein für seine spätere Karriere als Aktivist im Internetzeitalter.

Am nächsten Abend konnte man in der Rubrik „Kopfkino“ den wunderbaren „Tungu“ von Regisseur Marc Rühl sehen. Darin ändert ein Naturvolk, das von Wissenschaftlern beobachtet wird, urplötzlich seine Verhaltensweisen. Der Grund dafür könnte das Ätherische, die Luftigkeit ihres Wesens sein. Ihre Unabhängigkeit gegenüber dem Sinnlichen beinhaltet auch die Beziehungslosigkeit ihrer Beziehungen. Was Kant als selbstbewusste Tätigkeit der bürgerlichen Vernunft zu skizzieren versuchte, stellt sich ja als Ergebnis der versachlichten Verhältnisse heraus. Aus der Ohnmacht gegenüber der Versachlichung (durch die Wissenschaftler) entspringt die sinnlose Allmacht ihrer eigenen Voraussetzungslosigkeit. Ihre Identität bestimmt sich nicht länger im sozialen Miteinander und im gesellschaftlichen Zusammenhang, sondern ist fixiert durch die leere Einheit des Filmens an sich.

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