Rückblick auf die 20. ContraVision im Colosseum

Visionen in Reinform


"Musik liegt in der Luft": Wäre das Liebesleben besser gelungen, wenn Mirek als Kind anstatt auf Fußball auf Klavier- und Flötenstunden gesetzt hätte?

"Musik liegt in der Luft": Wäre das Liebesleben besser gelungen, wenn Mirek als Kind anstatt auf Fußball auf Klavier- und Flötenstunden gesetzt hätte?


Doch nicht nur Mobilität im Alter ist wichtig, denn das nützt auch nicht allzu viel, wenn der eigene Verstand einem plötzlich Streiche spielt und man damit die eigenen Angehörigen in den Wahnsinn treibt. „Der Ofen spinnt!“ schreit im Animationsfilm „Der Besuch“ (Conrad Tambour) eine hysterische Oma ins Telefon, dabei wollte sie doch für ihre alten Bekannten aus Linz groß kochen. Kurze Zeit später steht der eigene Sohn in der Tür; der Ofen ist natürlich nicht kaputt, außerdem ist es 2 Uhr morgens und die Linzer sind seit 20 Jahren tot. Einerseits wegen der liebevoll animierten Figuren mit österreichischem Akzent zum Schreien komisch, entbehrt der Film aber andererseits nicht einer gewissen Tragik, wenn der Filmemacher das Projekt aufgrund eigener Erfahrung realisiert hat und der Zuschauer weiß, dass Demenz eine unbarmherzige Volkskrankheit ist, die jeden treffen kann.

Im Alter wird die Zeit wieder wichtig, denn das zurückliegende Leben ist lang, das bevorstehende entsprechend kurz und das Bedürfnis, die Uhr zu bestimmten Momenten zurückzudrehen, unleugbar. Ein Moment, ein Impuls, eine Entscheidung kann die gesamte Zukunft verändern. Nicht immer zum positiven, wie „Who lasts longer“ (Gregorio Muro) zeigt, wenn der kleine Ander mit seinen Freunden auf den Gleisen Zugausweichen spielt und das nur knapp überlebt. Als künftiger Pflegefall gehen für Ander die Jahre ins Land, seine Eltern als einzige Gefährten, ohne Zukunft, ohne Freunde, ohne eigene Familie und damit ohne Liebe.

Während in „Who lasts longer“ das sich Verlieben als elementarste Erfahrung im Leben abwesend blieb, bildete es aber bei anderen Kurzfilmbeiträgen das Fundament für witzige, tragische und oft auch unwirkliche Geschichten. Warum verabredet sich in „When a Woman is Happy“ (Tatiana Buditskaya) das russische Mädchen Nika zu Blind Dates mit alten Perverslingen? Wieso kann der Hamburger Fischkopp Piet nicht bei seiner Arbeitskollegin Sabine punkten, dafür aber bei australischen Touristen-Tussis („I have a boat„, Nathan Nill)? Und warum sind Musiker eigentlich verdammt nochmal so sexy, dass Mireks Traumfrau in „Musik liegt in der Luft“ (Tim Bosse) sich von ihm abwendet, nur um einen schmierigen Schlagersänger anzuschmachten? Weil, wie alle Beiträge gleichermaßen nahelegen, Verlieben, Begehren, Verzehren und manchmal schließlich Verzagen subjektive Mechanismen sind, auf die wir keinen Einfluss haben, hinsichtlich ihrer eigenständigen Entwicklung und ihrer Beantwortung sowieso.

Gefühle kann man nicht erzwingen, heißt es im Volksmund. Oder etwa doch? Genau das versucht die 11-Jährige Ida in „Gekidnapped“ (Sarah Winkenstette), als sie nach der Kunststunde kurzerhand ihren strebsamen Mitschüler Hannes im Klassenraum einsperrt und zum gemeinsamen ersten Kuss zwingt. Der Plan geht auf, denn Hannes lässt sich tatsächlich auf das Experiment ein, bleibt aber wankelmütig, ob es sich um aufrichtige Gefühle handelt oder er nur Opfer des Stockholm-Syndroms geworden ist. Was wie ein Minderjährigen-Horrorszenario begann, wird schließlich doch noch gut, ganz im Gegenteil zu anderen Kurzfilmen, die sich blutigere und grauenerregendere Themen auf die Fahne geschrieben hatten.

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