Ein Besuch beim Midnight Sun Film Festival im Finnland

Lichtbilder über dem Horizont


Es ist kurz vor Mitternacht, als ein silberner Wagen die einsame Landstraße zwischen hohen Nadelwäldern entlang gleitet und die nächtliche Stille durchbricht. Die Sonne am Horizont schimmert nicht, sie knallt. Ihr Licht ist so hell und gleißend, dass es beinah die weißen Rentiere verschluckt, die ruhig und lautlos am Straßenrand grasen. Als der Wagen neben ihnen zum Stehen kommt, schauen die Tiere kurz hoch. Rentiere sind sehr anmutige Geschöpfe, aber leider „auch ziemlich dumm“, wie mich mein Quasi-Schwager Sebastian, der mir diese Reise überhaupt ermöglicht hat, aufklärt. Eine Weile betrachten wir dieses einmalige Naturschauspiel, dann setzt sich der silberfarbene Kombi wieder in Bewegung. Im Rückspiegel stakst ein Rentier auf die Fahrbahn und schaut uns neugierig hinterher. Weder es noch ich weiß, was mich in der kommenden Woche hier oben, 100 Kilometer nördlich vom Polarkreis, erwartet.

Sodankylä hat mit Berlin ungefähr so viel gemein wie ein Nadelbaum mit einem Spätkauf. Nur, dass es an beiden Orten jeweils viele davon gibt. Ein großes Stück der restlichen Welt entrückt, sind seine Bewohner scheu und distanziert, wodurch ja eigentlich schon die Deutschen per Klischee definiert sind. Blickkontakte sind rar, gelächelt wird selten. Nur wenn ein paar Drinks im Spiel sind, taut der Finne plötzlich auf und wird zugänglich und gesprächig. Alkohol weitet hier nicht nur die Blutgefäße, sondern auch das Herz. So reich und märchenhaft die finnische Landschaft ist, so arm ist anscheinend der Output an nationalen Filmproduktionen: „Wenn es um Filme geht, ist Finnland ein Dritte-Welt-Land“, sagt Festivalleiter Peter von Bagh am Abend der Eröffnung, nicht ohne hörbares Bedauern. Trotzdem geht das Midnight Sun Film Festival in diesem Jahr schon in die 28. Runde – und ist damit genauso alt wie ich. Als Eröffnungsfilm läuft Marco Bellocchios Klassiker „Mit der Faust in der Tasche“, ohne digitale Überarbeitung, dafür aber mit vielen Kratzern und einer fast schon antiquarischen Aura.

Bevor sich „Invasion of the Body Snatchers“ anschließt, betritt Regisseur und Stargast Philip Kaufman die Bühne und braucht geschlagene zwanzig Minuten, um zu erzählen, dass am damaligen Set in San Francisco plötzlich ein nackter Obdachloser zwischen den Dreh platzte, um zu bekunden, dass er das Original von 1956 ohnehin viel besser fand. Kaufmans Langatmigkeit hat man ihm aber spätestens verziehen, als Donald Sutherland endlich mit Pornobalken und Lockenschopf dem extraterrestrischen Pflanzenhorror den Kampf ansagt. Als wir danach das Kino verlassen, schert sich die Sonne mal wieder nicht darum, dass es mitten in der Nacht ist. Unbarmherzig gibt sie einem das Gefühl, als hätte man gerade drei Tage exzessiv im Berghain durchgefeiert. Bye bye Biorhythmus.

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