Ein Besuch beim Midnight Sun Film Festival im Finnland

Lichtbilder über dem Horizont


Das Unwetter ist am nächsten Tag weg, dafür sind die Mücken wieder da. Unterhalb der Hüfte sehe ich bereits aus wie der Elefantenmensch. Zum Trost wird ein bisschen auf der Terrasse mit Sebastians Arbeitskollegen gegrillt, für die notwendigen Utensilien sind die anderen schon vorher „inne Kaufhalle jefahrn“. Sebastians Sachsen-Anhaltinisch mischt immer wieder ein herzliches Stück Heimat unter dieses Gefühl der Fremde. Da das nächste Screening erst um 01:45 Uhr beginnt, statten wir vorher noch einem der örtlichen Clubs einen Besuch ab. Man soll ja immer aufgeschlossen für kulturelle Einflüsse sein, aber finnische Popmusik ist einfach grauenhaft. Als ich den DJ frage, ob er nicht wenigstens etwas Älteres spielen kann, ertönt kurz darauf Bon Jovi mit „It’s my life“. Ähm, vielen Dank. Die kommunikativen Missverständnisse setzen sich fort, als mich ein Finne auf der Tanzfläche anspricht: „Sorry, I can’t speak Finnish“, sage ich – „Yes, it’s nice to meet you too“, entgegnet er.

Vielleicht sollte ich erwähnen, dass 50 Prozent der gezeigten Filme beim Midnight Sun ältere Produktionen sind, denn die haben laut Festivalleiter Peter von Bagh schließlich mehr Seele als dieser ganze neumodische HD- und Digitalquatsch. Leider können wir „Death Watch“ von 1980 nicht bis zum Ende schauen, weil der Film sich mit der The Shining-Doku „Room 237“ um 03:45 Uhr überschneidet. Da sich am nächsten Tag Wikipedia in Schweigen hüllt, weiß ich immer noch nicht, ob Romy Schneider nun gestorben ist und Harvey Keitel für immer blind bleiben wird. „Room 237“ hatte ich schon gesehen, aber den tu ich mir gern ein zweites Mal an. Was wollte Kubrick uns nun mit dem Subtext jenseits des Familienhorrors im Overlook-Hotel sagen? Geht es um Indianer? Den Holocaust? Um Psychoanalyse? Oder gar um die Mondlandung, die Kubrick laut einem durchgeknallten Verschwörungstheoretiker gefaked haben soll? Keine Ahnung, aber es ist spannend zu sehen, wie ein Film sich noch gut 30 Jahre später parasitär in den Köpfen mancher Menschen festbeißt. Wäre Kubrick noch am Leben, fände er das vermutlich ziemlich lustig.

Nach fünf Tagen Filmeschauen erscheint es mir sinnvoll, raus aus dem Kinosessel den Schritt in die Metaebene zu wagen. Die Gemeinschaftproduktion „3x3D“ von Godard, Peter Greenaway und Edgar Perâ ist dafür optimal geeignet. Während Greenaway in einem alten Kloster bedeutsame Gestalten der portugiesischen Geschichte mittels modernem CGI wieder zum Leben erweckt, zeigt Godard lieber uralte Filmausschnitte und mault aus dem Off, das Digitale sei die Diktatur der Moderne. Wozu habe ich überhaupt diese bescheuerte 3D-Brille auf? Der beste Spagat zwischen ansprechenden Bildern und intellektuellem Input gelingt schließlich Perâ, der spielerisch allen Ahnungslosen Tom Gunnings Theorie vom Kino der Attraktionen erklärt und den Zuschauer von heute schließlich zum „Cinesapiens“ erhebt. Ich hingegen bin nach einer Woche Filmfestival nicht nur zum Cinesapiens mutiert, sondern trage mich auch mit einer großen Portion Abschiedswehleid. Die Welt hier oben hat so wenig mit meiner eigenen gemeinsam und auch, wenn ich Berlin vermisse, wird diese Reise mir immer als einmaliges und unersetzbares Erlebnis im Gedächtnis bleiben. Und spätestens, wenn ich zuhause in meinen Alltag zurückgefunden habe und der letzte Mückenstich verheilt ist, bleiben mir nur noch ein paar Fotos auf dem Laptop und die Erinnerungen in meinem Kopf. Geschichte und Vergangenheit existieren nicht; sie sind nur eine Konstruktion unseres Denkens, hatte Godard in seinem Film gesagt. Doch es ist etwas anderes, wenn man die Dinge selbst erlebt hat: Die Erfahrung macht die Wahrhaftigkeit. Schon bald wird die Sonne auch hinter dem Horizont von Sodankylä verschwinden. Aber sie wird wiederkommen. Genau wie ich.

Text/Foto: Alina Impe

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