Ein Besuch beim Midnight Sun Film Festival im Finnland
Lichtbilder über dem Horizont

Vielleicht sollte ich erwähnen, dass 50 Prozent der gezeigten Filme beim Midnight Sun ältere Produktionen sind, denn die haben laut Festivalleiter Peter von Bagh schließlich mehr Seele als dieser ganze neumodische HD- und Digitalquatsch. Leider können wir „Death Watch“ von 1980 nicht bis zum Ende schauen, weil der Film sich mit der The Shining-Doku „Room 237“ um 03:45 Uhr überschneidet. Da sich am nächsten Tag Wikipedia in Schweigen hüllt, weiß ich immer noch nicht, ob Romy Schneider nun gestorben ist und Harvey Keitel für immer blind bleiben wird. „Room 237“ hatte ich schon gesehen, aber den tu ich mir gern ein zweites Mal an. Was wollte Kubrick uns nun mit dem Subtext jenseits des Familienhorrors im Overlook-Hotel sagen? Geht es um Indianer? Den Holocaust? Um Psychoanalyse? Oder gar um die Mondlandung, die Kubrick laut einem durchgeknallten Verschwörungstheoretiker gefaked haben soll? Keine Ahnung, aber es ist spannend zu sehen, wie ein Film sich noch gut 30 Jahre später parasitär in den Köpfen mancher Menschen festbeißt. Wäre Kubrick noch am Leben, fände er das vermutlich ziemlich lustig.
Nach fünf Tagen Filmeschauen erscheint es mir sinnvoll, raus aus dem Kinosessel den Schritt in die Metaebene zu wagen. Die Gemeinschaftproduktion „3x3D“ von Godard, Peter Greenaway und Edgar Perâ ist dafür optimal geeignet. Während Greenaway in einem alten Kloster bedeutsame Gestalten der portugiesischen Geschichte mittels modernem CGI wieder zum Leben erweckt, zeigt Godard lieber uralte Filmausschnitte und mault aus dem Off, das Digitale sei die Diktatur der Moderne. Wozu habe ich überhaupt diese bescheuerte 3D-Brille auf? Der beste Spagat zwischen ansprechenden Bildern und intellektuellem Input gelingt schließlich Perâ, der spielerisch allen Ahnungslosen Tom Gunnings Theorie vom Kino der Attraktionen erklärt und den Zuschauer von heute schließlich zum „Cinesapiens“ erhebt. Ich hingegen bin nach einer Woche Filmfestival nicht nur zum Cinesapiens mutiert, sondern trage mich auch mit einer großen Portion Abschiedswehleid. Die Welt hier oben hat so wenig mit meiner eigenen gemeinsam und auch, wenn ich Berlin vermisse, wird diese Reise mir immer als einmaliges und unersetzbares Erlebnis im Gedächtnis bleiben. Und spätestens, wenn ich zuhause in meinen Alltag zurückgefunden habe und der letzte Mückenstich verheilt ist, bleiben mir nur noch ein paar Fotos auf dem Laptop und die Erinnerungen in meinem Kopf. Geschichte und Vergangenheit existieren nicht; sie sind nur eine Konstruktion unseres Denkens, hatte Godard in seinem Film gesagt. Doch es ist etwas anderes, wenn man die Dinge selbst erlebt hat: Die Erfahrung macht die Wahrhaftigkeit. Schon bald wird die Sonne auch hinter dem Horizont von Sodankylä verschwinden. Aber sie wird wiederkommen. Genau wie ich.
Text/Foto: Alina Impe