Ein Besuch beim Midnight Sun Film Festival im Finnland

Lichtbilder über dem Horizont


Neben Lakritzschnaps und sündhaft teurem Bier gibt es jedoch noch etwas anderes, das den Finnen von introvertiert auf extrovertiert umschalten lässt: Karaoke. Das ist hier nämlich keine lustige Freizeitbeschäftigung, sondern ein ernst zu nehmender Volkssport. Als am folgenden Abend die Verfilmung von „Grease“ im großen Zirkuszelt über die Leinwand flimmert, laden mitlaufende Texte zum Mitsingen ein, was das Publikum geradezu euphorisch annimmt. An vorderster Front und mit Mikros ausgestattet, singen sogar zwei Produzenten des Films mit – und kriegen es nicht wirklich geregelt. Peinlich, schließlich habt ihr doch den Film produziert! Die Finnen stört das nicht, solange John Travolta im Fünf-Minuten-Takt seine Tolle kämmt und dafür fast Standingovations  erntet. Hinterher wird in der beliebtesten und anscheinend einzigen Bar im Ort weitergetanzt und gesungen. Jung wie alt lässt hier die Gläser klirren, während eine Coverband 90er-Jahre-Hits von Greenday, Offspring und Co. zum Besten gibt. Der Finne kleidet sich alternativ, Dreadlocks, Ponchos und der gemeine Waldschrat-Look sind hier immer noch sehr gefragt. Komisch, dass mich einige Einheimische anscheinend für Ihresgleichen halten, aber abgesehen von „Hei“ (Hallo), „Hei hei“ (Tschüss), „Ei“ (Nein) und „Kiitos“ (Danke) werde ich bis zum Ende meines Trips auch nicht mehr auf die Reihe kriegen.

Am dritten Tag des Festivals stehen schließlich zwei finnische Produktionen auf meiner Agenda: In „Things We Do for Love“ verliebt sich ein schüchterner Fotograf in eine aggressive Asibraut, doch gerade, als er ihr Herz erwärmt, taucht plötzlich ihr frisch aus dem Knast entlassener Exmann auf. Am Ende nimmt sie keinen von beiden und zieht stattdessen mit einem Norweger auf einen Campingplatz. So eine blöde Kuh. Der Anschlussfilm „The Surrealist and His Naughty Hand“ entpuppt sich stattdessen als experimentelles Biopic zu dem finnischen Maler Kalervo Palsa (1947-1987), dessen Inspiration sich – wie so oft – aus paranoiden Sex- und Gewaltfantasien speiste. Alles beginnt damit, dass Kalervo am Anfang des Films von einem Monsterweihnachtsmann mit Wildschweinmaske ein Pinselset geschenkt bekommt. Wochen später, als Kalervo schon längst seine Passion entdeckt hat, hängt selbiger Weihnachtsmann immer noch sturzbesoffen bei Familie Palsa rum und kotzt zum Abschied nochmal auf den Frühstückstisch. Hoffentlich sind keine Kinder im Publikum.

Am Abend habe ich dann die Wahl zwischen einem Medienbranchen-Treff, bei dem ich mit anderen Presseakkreditierten besoffen ums Lagerfeuer tanzen könnte, oder dem Screening von „Indiana Jones – Raiders of the Lost Ark„. Da es wie aus Eimern schifft, entscheide ich mich für letzteres. Wieder beklatschen die Finnen begeistert das Geschehen auf der Leinwand, ungeachtet dessen, ob Harrison Ford gerade einen Ägypter oder einen Nazi abknallt. Wenn man aus einer Kinokultur kommt, in der Setz-dich-hin-und-halt-die-Klappe im Saal gilt und uralte Filme nur müde belächelt werden, ist das schon etwas befremdlich. Um 03:15 Uhr wird es schließlich für mich Zeit, emotional über die Stränge zu schlagen: „The Stone Roses : Made of Stone„, dessen Regisseur Shane Meadows vor ein paar Jahren schon das Masterpiece „This is England“ hervorgebracht hat, verursacht Gänsehaut bei den tapferen Midnight Sun-Guckern. Meadows hält sich nicht lange mit ausufernden Erläuterungen zu den Höhen und Tiefen der Bandhistorie auf. Stattdessen nimmt er sich die Zeit, Songs wie „I Wanna Be Adored“ oder „She Bangs the Drums“ voll auszuspielen und paart diese neben Archivmaterial mit glasklaren HD-Bildern, deren ästhetische Perfektion fast schon unerträglich schön ist. Mich persönlich wirft der Film zwei Jahre in die Vergangenheit zurück, als Berlin für mich tagsüber ein schmerzvolles Epizentrum und nachts meine hedonistische Fluchtlinie war, während das Stone Roses-Album von 1989 über Wochen den passenden Soundtrack dazu bildete. In dieser Nacht tropft nicht nur der Regen durch das Zeltdach.

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