filmPolska-Interview mit Julia Kijowska zu „United States of Love“

Kijowska: "Der Käfig ist offen, aber niemand will ausbrechen."


Tomasz Wasilewski versammelt in "United States of Love" das Who is Who des polnischen Films: Łukasz Simlat, Michał Grzybowski, Magdalena Cielecka, Marta Nieradkiewicz, Julia Kijowska (v.l.n.r.). © Oleg Mutu

Tomasz Wasilewski versammelt in „United States of Love“ das Who is Who des polnischen Films: Łukasz Simlat, Michał Grzybowski, Magdalena Cielecka, Marta Nieradkiewicz, Julia Kijowska (v.l.n.r.). © Oleg Mutu


Sie waren zu dieser Zeit noch in der Grundschule. Konnten Sie für ihre Rolle trotzdem auf eigene Erinnerungen aus dieser Zeit zurückgreifen? Oder haben Sie Erfahrungen Ihrer Eltern verarbeitet?
Ich habe mit dem Regisseur Tomasz Wasilewski viel über unsere Erinnerungen gesprochen. Wir haben haufenweise Filme und Fotos aus dieser Zeit angeschaut. In gewisser Weise haben wir die Geschichte unserer Eltern aus Kindersicht verfilmt. Allerdings war es auch eigenartig, einen historischen Film über eine Zeit zu drehen, an die ich mich mit all ihren Details erinnere.
Es herrschten andere soziale Beziehungen vor. All diese Menschen außerhalb der Familie, Nachbarn zum Beispiel, wurden trotzdem als Familienmitglieder behandelt. Häufig kam jemand vorbei, wenn ein Löffel Butter oder ein Glas Zucker gefehlt hat. Die Menschen waren auf unterschiedliche Weise miteinander verbunden. Heute ist das komplett anders. Vermutlich ist es einfacher Brüder im Geiste zu sein, wenn man gegen die gleichen Dinge kämpft. In der heutigen Gesellschaft existiert man zunächst einmal als Individuum.

Wieso haben Sie sich auf diese vier Geschichten von Frauen zu genau dieser Zeit konzentriert? Herrschen dieselben Probleme nicht auch heute noch vor?
Die Probleme bestehen immer noch, aber die vier Frauen würden heute ganz anders damit umgehen. Zum Beispiel steckt die Figur der Agata, die ich spiele, in einer furchtbaren Ehe fest. Beide Partner können sich nicht zu einer Scheidung durchringen. Tomasz Wasilewski hat sich dabei von einem Fall in seinem Bekanntenkreis inspirieren lassen. Er hat erst mit 14 Jahren das erste Mal eine Frau kennengelernt, die von ihrem Mann geschieden lebte. Ist das nicht unglaublich? (lacht) Es gab einfach keine andere Möglichkeit, eine Scheidung war absolut inakzeptabel.
Auch die Geschichte von Dorota Kolak, deren Figur sich in die Nachbarin verliebt hat, spielt eine wichtige Rolle. Heute haben sich solche Tabus ein wenig verschoben. Natürlich ist es nach wie vor schwierig für lesbische Liebe, aber eben lange nicht so wie zu dieser Zeit. Der starke Wille nach Veränderung sowie die Abwesenheit von Liebe und Freiheit sind gleich geblieben. Trotzdem hat Tomasz tolle Beispiele für die Strenge dieser Zeit gefunden.

Welche Besonderheit an Agata hat Sie so beeindruckt, dass Sie diese Rolle spielen wollten?
Mich haben vor allem Details beeindruckt, die unter der Oberfläche liegen. Klar, eine Frau, die sich in einen Priester verliebt ist zunächst einmal… (schnipst mit den Fingern) … attraktiv für eine Schauspielerin. Ich wollte gleichzeitig eine Erklärung für die fehlende Spiritualität in ihrem Leben finden. Agata verliebt sich vor allem in die Idee, dass es etwas Wichtigeres im Leben gibt, einen Grund für die eigene Existenz.
Mein Ziel war es, mit dieser Figur einen Ausdruck dafür zu finden, dass sie lange Zeit niemand wirklich berührt hat. Sie ist da vergleichbar mit einem wilden Tier. Ihr Körper ist nicht mehr weiblich und sie hat vergessen, was es bedeutet, attraktiv zu sein. Ihr Begehren danach nimmt immer mehr Raum ein. Das lässt sich durchaus direkt auf Polen münzen, auf eine ganze Landschaft. Wenn man sich diese Landschaft anschaut, möchte man nur noch weinen, denn sie ist so hässlich. Niemand weiß mehr, wie es dazu kommen konnte. Wie konnte man solche beschissenen grauen Klötze überall hinstellen? (lacht) Es ist die gleiche Suche nach Bedeutung wie bei Agata, nur auf einer anderen Ebene.

Arbeitet Agata deshalb in einer Videothek und lässt sich diese metaphorische Leere Polens durch Filme füllen?
Genau! Im Skript steht etwa, dass sie verrückt ist nach der Serie „Die Dornenvögel“, einer Liebesgeschichte zwischen einem Priester und einem jungen Mädchen. Agata ist eine Eskapistin, die in Filmen nach Alternativen zu ihrem jetzigen Leben sucht. Sie denkt: So könnte also dein Leben sein, aber es ist nicht so. Ihr bleibt nur, auf dem Balkon zu stehen und rauchend die weite Landschaft anzustarren.
Deshalb auch die Zeit: 1990, endlich tut sich etwas und alles ist möglich! Der Käfig ist offen, okay. Aber was soll ich damit anfangen, fragt sich Agata. Wie soll ich mich verhalten? Hat sich überhaupt etwas verändert? Nicht viel. (lacht) Der Film ist eben auch die Geschichte eines Transformationsprozesses einer „Dornröschen-Generation“. Es hat sich einiges im Leben der Frauen verändert, aber sie hatten nicht genügend Zeit, diese Veränderungen überhaupt wahrzunehmen.

Das Interview führte Hannes Wesselkämper (übersetzt aus dem Englischen).

(Dieser Beitrag entstand im Rahmen des 3. deutsch-polnischen Programms für junge Filmkritiker/innen und -journalist/innen der 11. Ausgabe von filmPOLSKA)

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