Interview mit Jean-Pierre und Luc Dardenne zu „Das unbekannte Mädchen“

Wir wollten uns nicht der Codes des Krimi-Genres bedienen


Die Regisseurs-Brüder Jean-Pierre (links) und Luc Dardenne. Foto: Temperclay

Die Regisseurs-Brüder Jean-Pierre (links) und Luc Dardenne. Foto: Temperclay

„Anderen gegenüber in der Schuld zu stehen, das ist die grundlegende menschliche Verbindung.“

Berliner Filmfestivals traf die beiden belgischen Regisseure Jean-Pierre und Luc Dardenne in Berlin zu einem Gespräch über ihren neuesten Film „Das unbekannte Mädchen“, männlichen Heroismus, staatliche Steuern und ihren Lieblingsdrehort, die Stadt Seraing in Belgien.

Mit „Das unbekannte Mädchen“ wagen sich Sie auf neues Terrain: Das Filmgenre des Krimis. Warum wird ausgerechnet ist es eine Ärztin, die zur Detektivin?
Jean-Pierre Dardenne (JPD): Für uns ist dieser Film kein Genrefilm. Einen Genrefilm zu machen gehört sicherlich weder zu unseren Obsessionen, noch wären wir dazu in der Lage. Allerdings zu behaupten, dass unsere Ärztin nichts mit einer Ermittlung zu tun zu hat, das wäre böse Absicht – denn natürlich geht es hier auch um eine Fallaufklärung! Aber es war nie unser Ziel, dass sie [Jenny Davin, gespielt von Adèle Haenel] zu einer richtigen Ermittlerin wird, die doppelbödige Fragen stellt. Uns war wichtig, dass sie immer Ärztin bleibt. Dass es ihre Rolle als Ärztin ist, mithilfe derer sie voran kommt und eine Antwort auf die Frage findet, wie der Name dieses unbekannten Mädchens ist. Sie sucht eben nicht nach einem Schuldigen – sie sucht den Namen des jungen Mädchens!

Weiterlesen: Unsere ausführliche Kritik „Obduktion des Sozialen in der Vorstadt“ zu „Das unbekannte Mädchen„…

Aber dennoch es ist interessant, dass der ermittelnde Inspektor ihr gegenüber klar stellen muss: „Wir führen die Ermittlungen, nicht Sie!“
JPD: Stimmt schon, aber wir wollten uns nicht der Codes des Krimi-Genres bedienen. Es geht vielmehr um ein inneres Erlebnis. Der Fall ist ja eher oberflächlich. Was uns vor allem interessiert hat, ist zu sehen, wie es ihr gelingt – ohne jemals jemanden zu beschuldigen und dank ihrer Naivität – die Menschen zum Sprechen zu bringen, ihre eigenen Interessen zu vergessen, um den Namen dieses unbekannten Mädchens heraus zu finden.
Luc Dardenne (LD): Der große Unterschied [zum Kriminalfilm] ist, dass der Ermittler sich nicht schuldig fühlt, wenn er die Verdächtigen befragt. Sie hingegen, wenn man sie fragt: „Warum befragen Sie mich?“ – antwortet: „Aber ich beschuldige Sie doch nicht. Ich fühle mich schuldig.“ – Und das stimmt ja auch: Sie beschuldigt niemanden. Im Gegenteil, sie versucht ihre Schuldgefühle zu teilen, indem sie sich sagt: „Das sind alles Menschen so wie ich, also können sie mir helfen.“
Das ist ihre ein wenig verrückte Hoffnung, dass die anderen sich vielleicht auch schuldig fühlen – nicht dessen, was sie gemacht haben, sondern dass sie Stillschweigen bewahren, weil ihre eigenen Interessen – so wie Jean-Pierre es bereits angedeutet hat – über der Sache stünden, den Namen des unbekannten Mädchens zu finden.
Das ist auch der Grund, warum die Leute aggressiv werden, die denken sich: „Das Mädchen ist doch sowieso tot, verdammte Scheiße, lasst mich damit in Ruhe!“ Aber sie hingegen sagt sich: „Ja, sie ist tot, ich weiß, aber das ist sie eben auch ein bisschen wegen mir und ich möchte ihren Namen herausfinden.“

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