Interview mit Jean-Pierre und Luc Dardenne zu „Das unbekannte Mädchen“

Wir wollten uns nicht der Codes des Krimi-Genres bedienen



Im Laufe des Films verändert sich ihre eigene Haltung dazu: Aus „Wenn ich ihr die Tür geöffnet hätte, wäre sie noch am Leben.“ wird „Wenn sie wirklich gestorben wäre, wäre sie nicht so präsent in unseren Köpfen.“ – Was verändert ihre Schuldgefühle im Laufe der Ermittlungen?
LD: Sie übernimmt die Praxis des Doktor Habran, was sie nicht vorhatte, denn sie wollte in dieser Privatklinik arbeiten, wo wir sie zu Beginn des Films sehen. Warum sie das tut? – Na, um ihre Ermittlungen zu führen! Sie sagt sich, dass sie so nah am Geschehen dran ist. Hier ist es passiert, hier wird sie also den Namen des Mädchen finden. Sie beschließt sogar nicht in die Stadt zu ziehen, sondern direkt in der Praxis zu wohnen. Auf diese Weise ist sie immer da, dem unbekannten Mädchen nah. Das ist der Grund, warum sie dort geblieben ist, aber am Ende realisiert sie, dass ihr Leben letztendlich darin besteht, einfach dort zu sein. Und sie ist glücklich so.
Sie glauben aber, dass ihre Schuldgefühle sich im Laufe des Film verändern?

Ja, genau. Ich habe den Eindruck, dass es dann nicht mehr nur ihre Schuldgefühle sind, die sie antreiben, sondern etwas viel Stärkeres, Grundsätzlicheres. – In einem anderen Interview zu dem Film sprechen sie in diesem Zusammenhang von so etwas wie „sozialer Einschläferung“: Wenn man sich schuldig fühlt, könnte man ja auch einfach mit Ignoranz reagieren, den Ort schnell verlassen, eine angesehen Stelle in einer Privatklinik übernehmen und versuchen, die ganze Sache so schnell wie möglich zu vergessen…
LC: Ja, sie ist in der Tat modifiziert dadurch, dass sie die Tür nicht geöffnet hat. Sie ist beschäftigt mit – ja fast schon besessen von – dem Mädchen, weil sie ihm die Tür nicht geöffnet hat und es gestorben ist. Und das ist sie ja bis zum Schluss.
Aber eben nicht auf eine traurige, resignierte Art – und vielleicht ist es das, was sich ändert. Sie umarmt am Schluss ja diese Frau, weil sie ihr die Wahrheit gesagt, weil sie ihr den Namen genannt hat. In diesem Moment wird sie ja auch von etwas befreit.
Es stimmt schon, wir haben in diesem Zusammenhang von einem Schlafzustand gesprochen – und tatsächlich zeigen wir sie ja in wachem Zustand, in ihrem Bett schläft sie ja nicht. Aber das ist für mich ein Zeichen ihrer bis zum Ende hin bestehenden Schuldgefühle.
JPD: Man könnte natürlich sagen, dass in dem Moment, in dem diese Schuldgefühle aktiv sind und aktivierend sind, sodass sie auf die Anderen zugeht und mit ihnen spricht und dafür sorgt, dass auch die Anderen mit ihr sprechen, wird das Ganze zu etwas Sozialem, in dem auch der aktuelle Stand der Dinge widerspiegelt. Aber ich denke, dass sie sich bis zum Schluss schuldig fühlt.

Man hat Ihnen ja eine gewisse Undurchschaubarkeit der Hauptfigur Jenny Davin vorgeworfen, die ihre Entschlossenheit nur schwer nachvollziehbar mache. Sehr schnell lässt sie sich auf die Ermittlungen ein, begibt sich auf die Suche nach dem Namen des unbekannten Mädchens, ein Unterfangen, das sie ja obsessiv verfolgt und ist dafür auch zu einigen Opfern bereit. Gleichzeitig wissen wir nichts über sie: Das unbekannte Mädchen, das ist auch ein bisschen Jenny Davin.
Woher rührt diese starke Motivation?

JPD: Ja, man weiß nicht, warum sie dieses unbekannte Mädchen so beschäftigt, aber genau das ist die Frage, die wir an den Zuschauer zurück geben wollten. Man fragt sich unwillkürlich: „Was hat sie nur mit diesem Mädchen, warum ist sie derartig betroffen. Warum? Tja, darauf gibt es keine Antwort.“
Aber es stimmt schon, dass wir ihr ein Privatleben hätten geben können.
LD: Wir haben tatsächlich mehrere Szenarios erdacht, aber entweder hat dieses Privatleben sie daran gehindert, sich dem unbekannten Mädchen anzunähern oder es half ihr lediglich darüber zu reflektieren, aber jedes Mal hatten wir dabei den Eindruck etwas zu schreiben, was genau so bereits gemacht worden ist.
Es muss also eine Frage für den Zuschauer bleiben und genau hier liegt ja auch die Spannung des Films.

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