Interview mit Jean-Pierre und Luc Dardenne zu „Das unbekannte Mädchen“

Wir wollten uns nicht der Codes des Krimi-Genres bedienen


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Seit einiger Zeit schon arbeiten sie mit einem festen Schauspielerensemble. Wie ist da entsprechend die Arbeit für Adèle Haenel gewesen, als die „Neue“?
LD: Sie hat sich sehr schnell sehr wohl gefühlt, wie wenn sie immer schon dabei gewesen wäre!
Aber wir proben ja auch am Set, mit den Kostümen, jeden Tag, und das ungefähr vier, fünf Wochen lang. Natürlich hat es auch hier und da ein paar angespannte Momente gegeben, aber sie hat sich sofort integriert und mit den anderen Schauspielern zusammen gearbeitet, war mit ihnen auf demselben Niveau.
Das ist aber einfach auch unsere Arbeitsweise, selbst mit Marion [Cotillard] oder Cécile [de France]: Wir betrachten alle auf demselben Niveau. Es gibt kein Auto für Adèle und eins für die anderen und es gibt keine Friseurin für Adele und eine für die anderen. Verstehen Sie? So stellen sie Gleichberechtigung zwischen den Menschen her und so entsteht ein Klima der Nähe und Vertrautheit. Und das ist wichtig, finde ich.
JPD: Wir versuchen auf diese Weise alles Hierarchische, was sich manchmal bei französischen Produktionen findet, zu brechen. Bei uns gibt es sowas nicht!

Auch „Das Unbekannte Mädchen“ spielt wieder in der Ville de Seraing. Warum filmen Sie immer wieder Ihre Heimatstadt? Gibt es andere Städte oder Länder die sie reizen würden?
JPD: Berlin! – Nein, ich weiß es nicht. Es ist wirklich eigenartig, aber bis jetzt, sehen wir unsere Protagonisten immer nur dort.
Man könnte sie natürlich auch woanders sehen, klar. Aber wir sehen sie dort. Dort haben wir bis heute Lust zu drehen.
Auch wenn wir natürlich nicht wissen, was uns die Zukunft bereit hält.
LD: Seraing ist eine Stadt, die sich wirklich sehr verändert hat. Wir haben marginalisierte Menschen dort gesehen, drei Generationen Arbeitslosigkeit in einer Familie, Drogen, Ausbeutung und illegale Einwanderer… – Es gibt so ein Echo, wenn eine Gesellschaft sich so zersetzt. Alles wird zum Konfliktmaterial.
Es gab dort einmal ein großes Kaufhaus. Heute gibt es zwar noch die Fassade und die verstaubten Vitrinen, dahinter befinden sich heute jedoch Behausungen illegaler Einwanderer.
Es gibt einen Haufen kleinerer illegaler Geschäfte, die Stadt tut natürlich, was sie kann, aber die Menschen leben einfach in Armut und schlagen sich eben durch, um zu überleben.
Das sind die Dinge, die man zu sehen bekommt, in einer solchen Stadt, in der es keine wirkliche Autorität mehr zu geben scheint. Die Menschen beginnen, sich zu verstecken. Es ist wirklich eine eigenartige Stimmung.
JPD: Es ist dort nicht, wie in den französischen Vorstädten mit der Gewalt. Das hat es auch schon gegeben, aber es ist nicht vergleichbar.
Es ist eine ehemalige Arbeiterstadt, die Menschen hatten hier Verbindungen und Arbeit, es gab Gewerkschaften…

Die Fragen stellte Tatiana Braun für Berliner Filmfestivals.

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