68. DOK Leipzig: Zwischen Katerstimmung und Kinderspielzeug

Drei Filme auf dem 68. DOK Leipzig richten den Blick dorthin, wo sich Rollenerwartungen von Müttern unter dem Druck vom wenig erzählten weiblichen Alkoholismus verschieben – dokumentarische Porträts aus dem innersten Kreis familiärer Überforderung
Nuala trägt schwarze High Heels, die an Partys erinnern, wenn sie auf den Straßen in Belfast trinkt. Am liebsten greift die Mutter der Filmemacherin von A WANT IN HER zu Cider. 18 Flaschen am Tag. Immer begleitet vom blauen Rauch der Zigarette, als wäre sie ein festes Requisit ihrer Existenz.
Auch Tonya, Protagonistin in FLOPHOUSE AMERICA, lebt im Nebel aus Nikotin und Alkohol. Ihr heruntergekommenes Hotelzimmer in den USA – Schlafzimmer, Küche und Wohnzimmer auf gefühlt acht Quadratmetern – wird zur Kulisse eines Alltags zwischen Rausch und Resignation. In übergroßem, ausgewaschenem T-Shirt und nur im Schlüpfer liegt sie auf dem Bett, lacht, trinkt, mal tanzt sie und dreht die Musik lauter. Ihr zwölfjähriger Sohn Mikal spielt gerne Videospiele. Sein größter Wunsch ist, dass seine Mutter mit dem Trinken aufhört.
In Brest, Belarus, treffen wir Katya, eine junge 22-jährige Frau, die zu ihrer Mutter zieht, um ihr mit der Betreuung ihrer circa anderthalbjährigen Schwester Amina zu helfen. Die Mutter ist meist abwesend, nur gelegentlich sieht man sie, wie sie an Tisch rumsitzt. Katya ruft sie an, bittet sie, nach Hause zu kommen. Doch sie kommt nicht. In der kleinen Wohnung stehen zwischen Babyspielzeug und Kuscheltieren Wodkaflaschen, Shotgläser und leere Bierflaschen.

Alle drei Dokumentarfilme porträtieren alkoholkranke Mütter und welche Auswirkungen die Sucht auf das Mutter-Kind-Verhältnis hat, dokumentiert mit präzisem Blick. In FLOPHOUSE AMERICA sehen wir eine Mutter-Sohn-Vater-Beziehung. Die Töchter in A WANT IN HER und WELDED TOGETHER sind schon erwachsen, versuchen aber, eine gesündere Beziehung zu ihren Müttern wiederherzustellen.
Alle drei Filme folgen dem gleichen Grundmuster: die Umkehrung der familiären Ordnung. Mütter, die wie Kinder wirken. (Ehemalige) Kinder, die zu Fürsorgenden werden. Mikal fordert richtige Mahlzeiten ein, die er nicht bekommt, und spült das Geschirr in der schmutzigen Badewanne. Sein Vater verdient das wenige Geld – eine eigene Wohnung ist auf dem US-Wohnungsmarkt für sie unerreichbar. Katya übernimmt die Betreuung ihrer Schwester, ruft ihre abwesende Mutter andauernd an. Doch ihr Versprechen, gleich da zu sein, hält sie nicht ein. Myrid, Filmemacherin und Tochter in A WANT IN HER, ist in ständiger Alarm- und Rufbereitschaft, falls ihre Mammy, ehemalige Sozialarbeiterin in einem Frauenzentrum, wieder auf der Straße gefunden wird. Sie kocht Kaffee für ihre Mutter, spricht mit ihr über Verantwortung – am Telefon, in Interviews.

Myrid Cartens starke Dokumentation A WANT IN HER entfaltet sich als poetischer, fast traumartiger Film mit mystischen Naturaufnahmen Irlands, wiederkehrenden Telefongesprächen mit ihrer Mammy und einem Produktionsrahmen, der immer wieder ins Narrativ integriert wird, wenn Carten etwa im Schnittraum sitzt. WELDED TOGETHER fußt dagegen auf nahen Einstellungen der Mimik von Katya. Sie hat wenig Worte, aber viel Ausdruck. Als eine Art Pause begleitet die Regisseurin Anastasiya Miroshnichenko Katya auch außerhalb des Familienlebens in größeren Einstellungen: in ihrer Arbeit als talentierte Schweißerin. Hier erlebt Katya einzige positive Momente, ihre männlichen Kollegen unterstützen sie liebevoll. Eine wirkliche Pause gibt es dagegen in FLOPHOUSE AMERICA für Mikal nicht. Nur die Hotellobby und die Hotelgänge erlauben ihn, kurz durchzuatmen. Und die Katze Smokey, mit der er kuschelt, spielt und ihr Fell wäscht.
In einer zentralen Szene konfrontiert Mikal seinen Vater mit der Verzweiflung über die trinkende Mutter. Er schreit, weint, droht mit Selbstmord. Der Vater will zuerst abwehren, fängt sich dann und versucht, ihn zu trösten. FLOPHOUSE AMERICA ist hart und schonungslos. Monica Strømdahl begleitet Mikal und seine Eltern über drei Jahre, mit beobachtender Kamera, ohne Interviews.
Auch WELDED TOGETHER folgt dem Direct-Cinema-Stil – ruhig, montiert mit Raum zum Durchatmen.
Laut dem National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism(NIAAA), einer US-Bundesbehörde, litten im Jahr 2024 rund 10,7 Millionen Frauen in den Vereinigten Staaten – etwa 8 % der erwachsenen weiblichen Bevölkerung – an einer Alkoholkonsumstörung. Die Tendenz ist steigend: Frauen gelten inzwischen als die am schnellsten wachsende Gruppe von Alkoholkonsumentinnen in den USA.
Auch eine internationale Meta-Analyse von 68 Studien kam bereits 2016 zu dem Schluss, dass sich der Abstand im Alkoholkonsum zwischen Männern und Frauen weltweit zunehmend verringert – besonders junge Frauen holen in vielen Ländern deutlich auf, was auch die soziale Realität hinter den drei dokumentarischen Porträts unterstreicht.
Doch nicht nur die Kameras der Filmemacherinnen in allen drei Dokumentationen zeigen die Umkehrung der familiären Rollenverhältnisse aufgrund der Alkoholsucht. Auch die Kinder selbst begreifen bereits, imitieren, spiegeln. In einer zentralen Szene in A WANT IN HER spielt ein zehn- bis zwölfjährige Mädchen in der Schule das Verhalten eines fiktiven Vaters nach, der aggressiv Bier einfordert. Requisite ist hier Orangensaft statt Bier. Die wackligen Amateur-Aufnahmen, die Carten selbst während ihrer Schulzeit aufgenommen hat, entlarven eine stille Anklage: Die Kinder in der Schule haben längst verstanden, wie eine Sucht die soziale Rollenerwartung in Familien sprengen kann.
Alle drei Filme zeigen zudem das Dilemma auf, in dem sich die Kinder der süchtigen Mutter befinden. Katya, Mikal und auch Myrid wirken erschöpft, überfordert – manchmal kurz davor, innerlich aufzugeben. Und doch bleibt da etwas bestehen, das sich jeder Enttäuschung widersetzt: die Liebe. Myrid schrieb ihrer Mutter einst auf eine Karte: Ich liebe dich bedingungslos. Nuala, ihre Mutter, erinnert sich daran im Interview – und antwortet mit denselben Worten. Auch Mikal sucht in FLOPHOUSE AMERICA nach Leichtigkeit, spielt mit seinem Vater, lacht, hält an kleinen Momenten der Nähe fest.
Mit Präzision und Mut erzählen alle drei Dokus den erzwungenen Rollentausch der Personen, die Verantwortung übernehmen, weil die Mütter im Rausch abwesend sind. Zwischen leergetrunkenen Gläsern, Kinderspielzeug und Besserungsversprechen, die gebrochen werden, entsteht so ein Dilemma, in dem Überforderung, Ohnmacht und bedingungslose Liebe untrennbar miteinander verwoben bleiben.
A WANT IN HER, Regie: Myrid Carten. Irland. UK. 2024. 81 Minuten.
FLOPHOUSE AMERICA; Regie:Monica Strømdahl. Norwegen. Niederlande. USA. 2025. 78 Minuten.
WELDED TOGETHER, Regie: Anastasiya Miroshnichenko. Frankreich. Niederlande. Belgien. 2025. 96 Minuten.
Termine auf dem DOK Leipzig 2025
WELDED TOGETHER
31.10.2025, CineStar 4, 11:00
02.11.2025: Passage Kinos Wintergarten, 18:00
A WANT IN HER
02.11.2025: Passage Kinos Astoria, 20:00
FLOPHOUSE AMERICA
02.11.2025: CineStar 2, 21:00