„Das Mädchen aus dem Norden“ von Amanda Kernell


"Das Mädchen aus dem Norden" ist Amanda Kernells erster Langfilm und wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem bei den Internationalen Filmfestspielen in Venedig. © Nordisk Film

„Das Mädchen aus dem Norden“ ist Amanda Kernells erster Langfilm und wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem bei den Internationalen Filmfestspielen in Venedig. © Nordisk Film

Identität als Wunde

Die Jungs fixieren ihre Arme und Beine auf dem Boden, dann schneiden sie ihr mit dem Jagdmesser einen Schlitz in das Ohr hinein. „Sie sind auf einer niedrigeren Stufe der Evolution, darum sehen sie so aus“ hatte der Anführer der Gruppe zuvor gerufen, als die vierzehnjährigen Elle Marja vorbei lief. Das wollte sie sich nicht gefallen lassen – also wehrte sie sich, erst verbal, dann physisch. Der Schnitt ins Ohr – eigentlich ein Ritual, mit dem die Rentiere im Juli markiert und damit den neuen Besitzern zugeteilt werden – ist ihre Bestrafung für das Aufbegehren. Er soll Elle Marja daran erinnern, wer sie ist, wo ihr Platz ist: bei den Jurten, in der Wildnis, unter ihresgleichen. Bei den Sámi.

Es ist das schwierige Verhältnis der fennoskandinavischen Staaten (Schweden, Norwegen, Finnland, Russland) zum indigenen Volk an ihren Ländergrenzen, den Sámi, das Amanda Kernell mit ihrem ersten Langfilm „Das Mädchen aus dem Norden“ („Sameblod„, SE, DK, NO, 2016) aufgreift. Bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts wurden die Sámi oder Samen zwangschristianisiert, enteignet und vertrieben. Der Aufstieg des Nationalstaates und Darwins Evolutionstheorie lieferten zudem die Grundlage für krude Rassentheorien. Es folgten: Nomadenschulen, die auf unterstem Niveau die „primitiven“ Sámi-Kinder unterrichteten, eine staatlich durchgeführte „Lappenuntersuchung“, die im Grunde nichts weniger als Segregation zum Ziel hatte, das Verbot der Sámi-Sprache – und vieles mehr. Ein Tor, der sich Skandinavien immer noch als Bullerbü im friedliebenden, rotgepinselten Wohlfahrtsstaat zurechtmalt.

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