„Hometown Boy“ von Yao Hung-I
Die Heimat, der Pinsel
Ärmlich, aber sauber wirkt das gemachte Bett, mit den Schuhen darauf. Ein intensiver Blick in ein Wohnungsinnenleben, doch plötzlich ist da neben dem Bett eine Gardine, die ins Sichtfeld weht und wir begreifen: wir schauen auf ein gemaltes Bett, eine Leinwand, ein Bild mit dem Namen „The house where I grew up“, wir schauen auf und nicht in ein Zimmer. Die Illusion des Authentischen – der Maler Liu Xiao-Dong, der zu den prominentesten chinesischen Künstlern der Gegenwart gehört, hat sich ihr ganz verschrieben. Seine Aufgabe als Künstler sieht er denn auch als Vertreter des sozialistischen Realismus in der Dokumentation und Bewahrung des Gewesenen und in dem genauen Blick auf die Arbeiterklasse, der – laut Xiao-Dong – kaum jemand einen zweiten Blick widmet.
Dieser Blick auf die unsichtbare Arbeiterklasse und das einfache Leben bildet den Kern der Dokumentation „Hometown Boy„, die den Maler zurück in sein Heimatdorf Jincheng begleitet. Hier hat sein künstlerisches Schaffen seinen Anfang genommen, zwischen den Kreideminen, den spärlichen Häusern, den Getreidezügen und weiten Feldern. Vor 30 Jahren malte er seine Freunde zum ersten Mal – als Teil einer Bewerbung für die Kunsthochschule, nun kehrt er als berühmter Künstler zurück, um sie abermals zu portraitieren. Die potentielle moralische Zwickmühle, in die er sich begibt, ist ihm dabei bewusst: „Für mich sind Freundschaft und Geld zwei paar Schuhe. Deswegen ist es jetzt auch so kompliziert – die Rückkehr bedeutet, dass ich im Grunde versuchen muss, Loyalität zu malen.“
Dieser schmale Grad zwischen Kommerz und ehrlichem, aufrichtigen Interesse: Er ist dem Regisseur Yao Hung-I durchaus gelungen, vielleicht auch deswegen, weil sein Protagonist Xiao-Dong immer noch Teil dieser Welt ist, die er einst zurückließ, um in Beijing zu studieren. Er ist ein bisschen wie sein Freund Li Wu, der in der Nachtschicht in einer Fabrik arbeitet, er ähnelt Sun Yun, der aufgrund versuchter Systemflucht im Gefängnis saß oder auch Xiao Don Hongog, dem passionierten Karaokesänger zwischen Legalität und Unterwelt. Er malt seine Modelle hauptsächlich in ihren eigenen vier Wänden oder in ihrer natürlichen Umgebung – vor dem Fernseher, am vollgestellten Tisch, auf dem Bett liegend oder eben in der Karaokebar. Doch nicht alles ist Authentizität. Das gewünschte Motiv, die Komposition – Xiao-Dong ordnet seine Modelle und ihre Umgebungen so an, wie er sie gern abbilden möchte. Am augenscheinlichsten wird dies beim Portrait der einzigen Frau des alten Freundeskreises: Xiao Dou. Er platziert sie aufgebrezelt in einen Billardraum, lasziv an einer Zigarette ziehend. Ist das nun die Xiao Dou, wie er sie wirklich erlebt hat? Die Xiao Dou, wie sie sich selbst sieht? Oder am Ende eine Fantasie des Malers?
Diese Irritationsmomente wirken fast am interessantesten, sie fügen der Dokumentation einen Spannungsbogen hinzu, den sie gut gebrauchen kann. Der Maler selbst betont, dass es ihm in seinen Arbeiten immer um Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit gehe: „Das Skelett, die Grundform des Bildes entspringt vielleicht der eigenen Imagination, aber der Rest ist die Magie der unmittelbaren Umgebung.“ Die Bilder zeigen jedoch nie nur ein Motiv, sondern auch, wie er seine Freunde sieht, wie er die Welt versteht, in der er lebt. Damit wird eines der Paradoxien des (sozialistischen) Realismus thematisiert: Kunst bleibt eben auch immer Ausdruck einer künstlerischen und individuellen Haltung. Sie kann nie nur Abbild sein. Liu Xiao-Dongs Haltung findet sich vor allem in kurzen persönlichen Statements zu den Modellen wieder, die jedem Portrait folgen oder vorausgehen: Die Tuschezeichnungen, mit denen er sich damals um die Aufnahme an der Kunsthochschule bewarb, sind hier sichtbar, zusammen mit weisen, fast schon buddhistisch anmutenden kurzen Personenbeschreibungen. So schreibt Xiao-Dong über seinen alten Freund Chengzi: „Chengzi stellt seine Bedürfnisse immer hinten an. Er lehrt uns die Bedeutung des Wortes Anstand.“ Das persönliche Moment dieser Skizzen geht über die bloße Beschreibung eines freundschaftlichen Verhältnisses weit hinaus: In jedem der gemalten Portraits ist der Künstler als mindestens zu gleichen Teilen anwesend, jedes Portrait ist auch ein Selbstportrait.
Dazu passt es, dass Liu Xiao-Dong schöne Einblicke in die eigene Arbeitsweise gibt, in sein Verhältnis zur Malerei, die er trotz seiner Passion immer als Drahtseilakt begreift: „Die Malerei ist viel beschränkter als das Kino: Ich habe genau einen Blickwinkel, ein Bild und ich muss versuchen, jedes Detail in ihm unterzubringen.“ Die Konzentration, mit der Xiao-Dong diese Details in seine Bilder einarbeitet, überträgt sich auf seine Freunde und Eltern, die seelenruhig für ihn Modell sitzen und dabei wirken, als hätten sie nie etwas anderes getan. Dass ist vielleicht die größte Stärke des Films: „Hometown Boy“ erzählt auch davon, dass die Kunst ein natürlicher, unprätentiöser Teil des Lebens ist, wenn man Kulturbetrieb und Kommerzkarussel einmal außen vor lässt.
Marie Ketzscher