KILLERS OF THE FLOWER MOON von Martin Scorsese
Wölfe, überall
Als Anfang der 1920er Jahre das Bureau of Investigation, aus dem später das FBI hervorgeht, ins Leben gerufen wird, sucht der Chef der neuen Behörde, ein junger Mann namens J. Edgar Hoover, nach Fällen, die geeignet scheinen, den Erfolg der neuen Ermittlungsmethoden des Bureaus unter Beweis zu stellen. Der von Hoover nach Oklahoma geschickte Ex-Ranger Tom White klärt mit seinem Team in der Folge einen der spektakulärsten Kriminalfälle des 20. Jahrhunderts auf. Das in etwa ist der Inhalt von James Granns Sachbuch-Bestseller KILLERS OF THE FLOWER MOON (2017), der nun von Martin Scorsese als düsteres Epos verfilmt wurde.
Ende des 19. Jahrhunderts wird den Osage von den Bundesbehörden ein Stück kargen Landes im Süden Oklahomas als Reservat zugewiesen. Was zu diesem Zeitpunkt niemand weiß: die wenig fruchtbare Geröllwüste birgt das größte Erdölvorkommen der Vereinigten Staaten. Binnen kürzester Zeit steigen die Osage zum nach Pro-Kopf-Einkommen reichsten Volk der Erde auf. Die Headrights – Lizenzrechte, die sie zur Ölförderung versteigern – sind ein Vermögen wert. Indigene, die sich in Pelzmänteln kleiden und von weißen Chauffeuren durch die Gegend fahren lassen. Das ist eine kuriose Umkehrung der sozialen Verhältnisse, die bei ihren weißen Nachbarn Neid, Missgunst und Gier wecken. Viele Osage sterben jung und unerwartet. Am Alkohol, einer seltsamen „schleichenden“ Krankheit und nicht selten an „Selbstmord“. Die Behörden, die Polizei, Ärzte, Anwälte oder Vormunde tun nichts. Die Umstände, auf die Tom White (Jesse Plemons) stößt, sind himmelschreiend.
Doch die Ermittlungen, in Granns Buch Zentrum der Handlung, kommen im Film erst im letzten Viertel zum Tragen. Stattdessen stoßen Scorsese und sein Co-Autor Eric Roth ins Herz der Geschichte vor und damit zu Mollie und Ernest Burkhart. Mollie (Lily Gladstone), eine stolze und kluge Osage, lernt in dem frisch aus dem I. Weltkrieg heimgekehrten Ernest (Leonardo DiCaprio) die Liebe ihres Lebens kennen. Hochzeit, drei Kinder – das Glück könnte perfekt sein, würden sich die seltsamen Todesfälle unter den Osage nicht auch in Mollies Familie mehren. Ihre drei Schwestern sterben. Erst erliegt Minnie der „schleichenden“ Krankheit, dann wird die flamboyante Anna Opfer eines unaufgeklärten Verbrechens, schließlich wird Reta samt Gatten und Haushälterin bei der Explosion ihres Hauses getötet. Auch Mollies Mutter siecht dahin. Alle Headrights der Familie landen in Mollies Händen, deren Gesundheitszustand sich just zu diesem Zeitpunkt verschlechtert. An Diabetes leidend, ist sie auf Insulin angewiesen, das ihr von Ernest gespritzt wird, der im Falle ihres Ablebens das gesamte Vermögen der Familie erben würde. Als in Mollie ein schrecklicher Verdacht aufkeimt, ist das Publikum längst im Bilde.
Denn Scorseses KILLERS OF THE FLOWER MOON ist kein klassisches Whodunit, kein nervenzerrender True Crime Thriller. Die Karten liegen hier früh auf dem Tisch und sie zeichnen das abgründige und abstoßende Porträt einer Gesellschaft, die von Ernests Onkel William Hale (Robert De Niro) dominiert wird, einem Viehbaron, der sich gerne King of Osage County nennen lässt. Hale gibt sich als fürsorglicher Freund und Förderer der Osage. Er beherrscht ihre Sprache und verspricht in flammendem Zorn, bei der Jagd nach den Mördern zu helfen. Er genießt das Vertrauen der Indigenen und setzt doch alles daran, ihr Ableben zu beschleunigen und ihre Headrights unter seine Kontrolle zu bringen.
De Niro gibt diesen Soziopath mit altväterlicher Güte, ein freundlich lächelndes Monster, das der Galerie an Scheusalen, die er in seiner langen Karriere gespielt hat, eine weitere, besonders durchtrieben Facette hinzufügt. Überhaupt agieren die Darsteller wie so oft bei Scorsese auf überdurchschnittlichem Niveau. DiCaprios Ernest Burkhart ist ein schlichter Geselle, der um die kriminellen Absichten seines Onkels weiß, ihm bei der Ermordung von Mollies Schwestern behilflich ist und der Frau, die er aufrichtig liebt, den schleichenden Tod injiziert. Diese sonderbare Persönlichkeitsspaltung macht Ernest Burkhart zu einem der schwierigsten Charaktere, die DiCaprio bislang gespielt hat.
Es ist aber die enigmatische Performance Lily Gladstones, die diesen Film adelt. Mit sanftem, undurchdringlichen Blick durchschaut sie Ernests unehrenhaften Motive von Beginn an und lässt sich doch auf ihn ein. Ihre Liebe ist unbedingt. Sie hält noch zu ihm, als er längst entlarvt ist. Und so ist es für Ernest die schlimmste Strafe, ihr die Wahrheit gestehen zu müssen, in dem Bewusstsein, sie danach nie wieder sehen zu dürfen. Wenn Tom White schließlich auf der Bildfläche erscheint, hat das nichts von einem White Saviour Complex. Ist es doch Mollie selbst gewesen, die zuvor in Washington Präsident Coolidge auf die Situation im Osage County aufmerksam gemacht und damit jene Entwicklung in Gang gesetzt hat, die zu ihrer eigenen Rettung führt.
Handwerklich, das kann man bei einer 200 Millionen Dollar Produktion erwarten, agieren sämtliche Gewerke auf höchstem Niveau. Production Designer Jack Fisk (u.a. DAYS OF HEAVEN, MULHOLLAND DR. oder THERE WILL BE BLOOD) hat den Film mit einer ganzen Kleinstadt samt aufragender Bohrtürme ausgestattet, die von Rodrigo Prieto (u.a. BROKEBACK MOUNTAIN, THE WOLF OF WALL STREET, SILENCE oder THE IRISHMAN) in erlesenen Panoramen eingefangen wird. Es sind aber gerade die intimeren Szenen in dunklen Interieurs, in denen Fisks und Prietos Arbeit besonders überzeugt. Die Vielseitigkeit von Prietos Kameraarbeit zeigt sich auch in der Tatsache, dass das derselbe Mann ist, der zuvor für die Bilder in BARBIE verantwortlich war. Für seinen Score hat der jüngst verstorbene Robbie Robertson von The Band, seit Scorseses THE LAST WALTZ (1978) ein Langzeitkollaborateur des Meisters, auf opulente Streicherarrangements verzichtet und sich stattdessen von der indigener Rhythmik inspirieren lassen.
Thelma Schoonmaker schließlich, die schon Scorseses ersten Film WHO’S THAT KNOCKING AT MY DOOR (1968) editierte und seit RAGING BULL (1980) für den Schnitt jedes Scorsese Films verantwortlich war, gelingt es, den Film – trotz seiner fast dreieinhalb Stunden Laufzeit – ohne Längen im Fluss zu halten. Allerdings fällt auf, dass Scorsese und Schoonmaker es in ihren letzten Filmen, seit SILENCE (2016), etwas ruhiger angehen. Die Zeit der rasanten, dynamischen Bildfolgen, früher ein Markenzeichen der Beiden und Inspiration für zahlreiche jüngere Filmemacher, scheint vorbei und ist einer gediegeneren Erzählform gewichen, die sich stärker auf die Charaktere und ihre Motivation konzentriert, der man vor allem aber nicht mehr vorwerfen kann, einen verbrecherischen Lebensstil zu glorifizieren.
Selten wurde in einem Scorsesefilm so beiläufig, kalt und frei von Glamour gemordet wie in KILLERS OF THE FLOWER MOON. Mit dem Film mag sich Scorsese erneut auf dem ihm vertrauten Terrain des Gangstermilieus bewegen, doch anders als Henry Hill in GOOD FELLAS (1990) würde Ernest Burkhart wohl nie behaupten, dass er sich genau dieses Leben so gewünscht hat. Wenn er in einem Kinderbuch über die Geschichte der Osage den Satz: „Can you find the wolves in this picture?“ liest, wirkt das wie ein Leitmotiv des gesamten Films – Wölfe, überall.
Manche Kritiker haben nun moniert, Scorsese würde die Täter zu sehr in den Fokus nehmen, die Perspektive der Osage aber zu wenig beachten. Der Vorwurf ist wohlfeil. Hätte Scorsese die Geschichte aus der Sicht der Osage erzählt, hätten vermutlich dieselben Kritiker die Frage aufgeworfen, ob ein alter, weißer Mann der Richtige sei, genau diese Geschichte zu erzählen. Stattdessen begegnet Scorsese den Osage mit Respekt und gebührendem Abstand. Er weiß, dass es nicht an ihm ist, ihre Version der Geschichte zu erzählen. Vielmehr adressiert er an sein übliches Publikum – in der westlichen Welt vornehmlich weiß und vornehmlich männlich – und seine Geschichte könnte von den hehren Gründungsmythen Amerikas kaum weiter entfernt sein.
Die Osage-Morde wurden nach wenigen Jahren aus dem öffentlichen Bewusstsein gedrängt, ähnlich dem Tulsa-Massaker, bei dem etwa zeitgleich ein weißer Mob eine prosperierende afroamerikanische Gemeinde zerstörte und über 300 Menschen – Frauen, Männer, Alte und Kinder – ermordete. Die Antriebsfeder des amerikanischen Aufstiegs, diese beunruhigende Kombination aus kapitalistischer Gier, weißer Suprematie und Genozid, wird von Scorsese mit chirurgischer Präzision freigelegt.
Das gipfelt in einen Epilog, über den noch viel diskutiert werden wird, stellt er doch alles, was man in den fast dreieinhalb Stunden zuvor gesehen hat, die Geschichte, aber auch den Film selbst und seinen Schöpfer, nochmal in einen ganz neuen Kontext. Scorsese hat hier nicht nur sprichwörtlich das letzte Wort. Und sollte KILLERS OF THE FLOWER MOON tatsächlich sein letzter Film sein, wovon man bei einem Regisseur seines fortgeschrittenen Alters ja leider immer ausgehen muss, könnte dieses letzte Resümee kaum bitterer ausfallen. Martin Scorsese mag 80 Jahre alt sein, doch dieser weise alte Mann hat uns immer noch mehr zu sagen, als die meisten seiner jüngeren Kolleg_innen. Man muss nur bereit sein, zuzuhören.
Mögliche Oscarnominierungen: Bester Film, Regie, Drehbuch, Hauptdarstellerin, Hauptdarsteller, Nebendarsteller, Kamera, Schnitt, Production Design, Kostüme, MakeUp & Hair Styling, Ton, Score.
Thomas Heil
KILLERS OF THE FLOWER MOON, Regie: Martin Scorsese, Darsteller_innen: Leonardo DiCaprio, Robert DeNiro, Lily Gladstone, Jesse Plemons, Tantoo Cardinal, Cara Jade Myers, William Belleau, Louis Cancelmi, Scott Shepherd, Tatanka Means, Tommy Schultz, Jason Isbell, Sturgill Simpson, Ty Mitchell, John Lithgow, Brendan Fraser u.v.a.