„Tomboy“ von Céline Sciamma



Céline Sciamma hat den Film mit einem geringen Budget innerhalb weniger Monate im Sommer 2010 geschrieben, besetzt und gedreht. Die Qualität von „Tomboy“ liegt in der Unaufgeregtheit, Spontaneität und Frische, mit der die Drehbuchautorin und Regisseurin die Geschichte der kleinen Laure erzählt. Sie bleibt ganz auf Augenhöhe ihrer Protagonistin und blendet die Welt der Erwachsenen weitestgehend aus. In farbenfrohen und sommerwarmen Bildern begleitet sie die Kinder beim Spielen in den Wäldern, auf dem Bolzplatz, beim Baden im See und lauscht ihnen beim Wahrheit-oder-Pflicht-Spiel im Treppenhaus. Die Unbefangenheit und Natürlichkeit der jungen Darsteller sowie die enorme Leinwandpräsenz von Hauptdarstellerin Zoé Héran sind es, die Sciammas zweiten Langfilm so glaubwürdig und faszinierend leicht erscheinen lassen. Zoé Héran, die in »Tomboy« ihr Kinodebüt gibt, changiert glaubhaft zwischen den Geschlechtern, wird von Laure, der großen Schwester und liebevoll-burschikosen Tochter im trauten Zuhause zu Michael, dem großen Bruder und guten Fußballer. Die Ernsthaftigkeit, mit der die Zehnjährige durchs Leben schreitet, und ihre stete Angst vor der Entdeckung werden lediglich in ihren Momenten als Junge von kurzen, befreienden Glücksgefühlen durchbrochen. Etwa, wenn Michael die gleichaltrige Lisa nach Hause begleitet und die beiden Kinder zum Song „Always“ von Para One haltlos und lachend durch das Zimmer tanzen.

Der Sommer der Freiheit ist von kurzer Dauer und Laures Leben als Junge steht auf wackligen Beinen. Die Eltern, die ihren Kindern stets aufmerksam und liebevoll begegnen, können sich, als der Schwindel auffliegt, nicht in ihre Tochter einfühlen. „Mir war es wichtig, möglichst deutlich zu zeigen, dass Laures Verhalten nichts mit einer Flucht aus der Wirklichkeit zu tun hat“, sagte die Regisseurin in einem Interview dazu. Laure fühlt sich wohl in ihrem Zuhause. Die Familie liefert nicht den Schlüssel, um das Verhalten der Protagonistin zu erklären. Am Ende überrascht die Mutter mit ihrer plötzlichen Unbarmherzigkeit, wenn sie Laure/Michael dazu zwingt, sich ein Mädchenkleid überzuziehen und an sämtlichen Türen der Nachbarschaft zu klingeln, um den „Betrug“ aufzuklären. Sie wolle Laure nur helfen, erklärt die Mutter. Mit der Klarstellung scheint das Problem für die Erwachsenen gelöst. Welche Spuren das bloßstellende Unterfangen bei Laure hinterlässt, bleibt offen.

Eileen Reukauf

Tomboy, Drehbuch/Regie: Céline Sciamma, Darsteller: Mathieu Demy, Sophie Cattani, Zoé Heran, Malonn Lévana, Jeanne Disson, Kinostart: 3. Mai

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