Festivalbericht: landmade 2011


Foto: landmade

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Stadt und Land

Verlässt der gemeine Berliner seinen zumeist hektischen urbanen Lebensraum, sehnt er sich nach ländlicher Idylle und saftig grünen, weiten Weiden, auf denen glückliche Kühe grasen. Er ist wohl auf Sinneseindrücke aus, die ihn beruhigen und selig stimmen sollen. Dabei offeriert eine Landpartie mitunter auch noch eine kleine Zeitreise. Man bewundert alte, herrschaftliche Häuser, sieht die uralten märkischen Alleebäume am Wegesrand an sich vorbei ziehen, hier und da ein aus Ruinen wiederauferstandenes Schlösschen oder Gut. Durchquert man so das brandenburgische Land, wo sich Versuchsfeld an Versuchsfeld modernster Maissorten neben Biohof an Biohof reihen, ist auch dieser Landstrich Abbild und Zeuge deutscher Geschichte, die im 21. Jahrhundert angekommen ist. Segen oder Fluch? Wo steht der moderne Mensch und wie steht er mit dem da, was er sich so an Errungenschaften im Laufe seiner Geschichte geleistet hat? Im kleinen havelländischen Stölln leistet er sich den ältesten Flughafen der Welt. Hier startete und landete der Herr der Lüfte Otto Lilienthal seine ersten Fluggräte. Und ebendort sein letztes.

Stölln ist ein Ort, in dem der Erfindergeist zu spüren ist. Gerade daher wohl auch einer, an dem der letzte Teil des diesjährigen landmade-Festivals stattfinden musste. Stand es doch auch unter dem Stern der Himmelsstürmer und der Weltverbesserer. Doch sind diese „Gutmenschen“ auch immer solche? Auch wenn sie es wollten, sie kommen an einen Punkt, an dem sie eben leider nicht mehr die Folgen ihres Handelns beeinflussen können. „Scheiss auf den Kommerz, lass uns was Richtiges machen“ veranschaulicht dieses Dilemma eines Gutmenschen geradezu grandios. Der Dokumentarfilm von Horst Frebel über den Erfinder Reiner Lemoine zeichnet den Lebensweg eines Unternehmers, der auf dem Gebiet der Erneuerbaren Energien in der Weltwirtschaft mitspielte und dabei den Glauben an seine Ideale mehr und mehr verlor. „Lemoine wäre wohl aus dem Konzern ausgestiegen und hätte sich diesem Fortschritt entsagt, wäre er nicht recht früh verstorben“ mutmaßte Frebel nach dem Film im Lilienthalzentrum.

Andere noch lebende Visionäre berichteten am Festivalsamstag über die Gefahren und negativen Aspekte des Fortschritts, insbesondere in den Bereichen der Energiegewinnung und deren Folgen für Mensch und Umwelt. Sebastian Pflugbeil, Physiker und Atomenergieexperte, und Lothar Lehmann von der „Kein CO2-Endlager Altmark Bürgerinitiative“ diskutierten über das Papier „Zehn Empfehlungen zur Rettung der Welt“ von Harald Welzer und gaben Stoff zur Reflexion über geltende Fortschrittsideen und deren ökologisch wie ökonomisch positive Nutzbarkeit. Auch hier wieder einer der sehr  gelungenen regionalen Kontexte des Festivals, gleichwohl dieser Festivalbestandteil erstaunlicherweise nicht mehr Besucher aus dem ländlichen Raum als Besucher aus der Stadt anziehen konnte.

Nach dieser schweren Kost konnte man sich dann auf dem Gollenberg unter der Tragfläche der Lady Agnes den leiblichen Genüssen zuwenden. Nach dem Aufruf des „Flugkäpitäns“ Ivo Lotion, der die Abendveranstaltung gewitzt moderierte, nahmen die Fluggäste, ergo Festivalbesucher, in der imaginären Interflugmaschine unter der realen Interflugmaschine Platz. Die freundlichen Stewardessen servierten eine Bouillabaisse nach zünftiger brandenburgischer Art: Fischsuppe mit  fangfrischem Fisch vom Fischer Schröder aus Strodehne. Das 1988 ausgemusterte und in Stölln eigens zu Ehren Lilienthals gelandete Langstreckenflugzeug der Interflug vom Typ Iljuschin IL 62, wurde auf den Vornamen Lilienthals Frau Agnes getauft und dient seither als Museum, Ausstellungsraum und auch Standesamt.

Der 20-minütige Film von Wolfgang Hupe über die spektakuläre Landung dieser, für einen kleinen Acker von gut 800 Metern, monströsen Passagiermaschine, illustrierte den Passagieren die Umstände dieses einmaligen Manövers. Das cineastische Highlight des Abends folgte, der erste Science-Fiction-Film der DDR „Der schweigende Stern„.Dazu genossen die Fluggäste ein Potpourrie von heimischen Elbe- und Havelfischen, stilecht serviert im Interflugtray. Währenddessen senkte sich die Sonne hinter den Erhebungen um den Gollenberg in der sonst so flachen märkischen Heide. Und nicht nur das gute Essen, der Kulturgenuss sondern vor allem auch das idyllische Abendrot beruhigten und stimmten die gemeinen und zahlreich angereisten Städter selig. Ein gelungener Abschluss, der dennoch die Frage nach dem Austausch von Stadt und Land aufwarf. Gefühlt ist landmade eine Event von Städtern für Städter auf dem Lande.

Sven S.