NoDogma-Festivalbericht: Qualität als Grad der Übereinstimmung


NoDogma-Flyer

Das Tacheles in Berlin Mitte. Es war ein herbstlicher Tag, einer, der an jene überbewerteten Fotoalben erinnert, die ein Berlin der 1980er glorifizieren. Dem Betrachter in Wahrheit aber ein Bild der Stadt unterschieben, das unverrückbar ist. Es war kurz vor sechs, als ein hochgewachsener, drahtiger Mann die Türen zu einem hohen, schmutzigen, von Tapeten befreiten, düsteren Raum öffnete. Am Ende des Raumes war eine Leinwand gespannt, fünf Fuß davon entfernt ein Beamer, weitere zehn Fuß später die Sitzreihen. Keine Bar, kein Kasten Bier, nur ein Pappschild mit der Aufschrift „Bier 1,50 Euro“. Ein Stereotyp wie aus einem der Fotoalben. Alles andere hätte vom puristischen Filmgenuss eh nur abgelenkt – und von der Ansprache des Veranstalters, die folgte. Denn für alle Gekommenen ging der Weg erst einmal wieder nach unten, raus vor die Tür, in die Kälte.

Am 6. Oktober wurde die ´Offene Uni Berlin´, das letzte besetzte Haus geräumt. Ihre Bewohner verweilen in Obdachlosigkeit oder U-haft. Einigen dort wohnenden Künstlern wurden die Bilder zerstört und das selbst Aufgebaute wurde von den Mühlen der Justiz zu einem Stück Stadtgeschichte kleingemahlen.“ Die Stimme des Veranstalters war nicht besonders fest, das Megaphon nicht sehr laut, die Passanten nur mäßig interessiert. Und die Besucher – sie wollten sich ein paar Filme anschauen. Zehn Minuten später ging es auch los.

Zwei kurze Videos über die Offene Uni Berlin (OUBS) – die der Austragungsort des ersten „No Dogma“ – Festivals war – eröffneten den Abend. Der Raum füllte sich nun langsam mit Gästen, das entstehende Kohlendioxid heizte den kalten Raum. Um vorweg zu greifen, die cineastisch beste Arbeit kam von der französischen Aktionsgruppe Bon Pied, Bon Oeil. Eine Videocollage, die Bilder der 1968er-Proteste mit G8-Bildern versetzte. Der Anfang erinnerte technisch an alte Anime-Schinken wie „Saber Rider„, untermalt von unterkühltem Drone. Zu lesen war dieser Clip wie eine vage Aversion gegen alles der Moderne Verdächtige, mit der bitteren Einsicht versetzt, dass die Zivilisation – der Leviathan – eben ein Monster ist, vor dessen Allmacht jeder Widerstand scheitern muss, da ansonsten der Rückfall in den Naturzustand droht. Beklatscht wurde dieses kleine Juwel nicht.

OUBS-Haus

Es folgten Beiträge der Über-Partei, GraswurzelTV und dem Forum für Nichtarbeit zum Thema „Castor-Transporte“. Stilistisch recht ähnlich und übertrieben euphorisch beklatscht, reihten sich Bilder leicht emotionalisierbarer Menschen aneinander: Eine Sitzkette hier, der Reizgas-Bulle da, die Plattitüden zur Uninformiertheit der Medien auf beiden Seiten. Ideologische Prozesse enden ähnlich wie die Ökonomischen in der Reproduktion. Auf einem herumliegenden Faltblatt steht „Wer sich bewegt, friert nicht“. Doch, man friert hier. Das Allgemeine des Aktivismus produziert das Besondere aus sich heraus und negiert es dadurch. Das Allgemeine des Aktivismus wird zu einer selbstgelegten Regel, diktiert von einem Besonderen – und darum allem Besonderen gegenüber unzulässig. Was bleibt ist eine Trostfunktion. Nur wird einem davon nicht wärmer, man stumpft lediglich ab.

Im Laufe des letzten Jahres sind die Mieten berlinweit im Schnitt um 19 Prozent gestiegen. Als Reaktion darauf wurde am 10.April 2010 der Umsonstladen Café Diesseits am Heinrichplatz besetzt. Dort gab es zuvor das Jenseits, eine der letzten alteingesessenen Kneipen im Kiez, in der ein Pils noch im gekühlten Glas ausgeschenkt wurde. Der nachfolgende Clip von Freundeskreis dokumentierte diese Vorgehen ebenso wie die Befindlichkeiten der Anwohner. Bei vielen ist die Angst vor einem zweiten Prenzlauer Berg, vor akzeptanzloser Gentrifizierung offensichtlich groß. Statt einer Optimierung von Gewinnen, scheinen nicht wenige Vermieter im Kiez nur auf eine Maximierung zu zielen, oder wie es ein ehemaliger Anwohner formulierte: „Das wurde in der Krise gekauft, bisschen Titsche draufgetincht und nun werden sie ihre Schulden nicht los. Nicht mit mir.“ Mit viel Witz, Sternburg im Blut und einem Casio-Keyboard folgte noch die alte Sex Pistols Schmonzette „Anarchy in the UK„. Ein Videoclip mit Potential.

Filmszene: Totales Zentralregister

Das genaue Gegenteil war bei einem Clip zu Überwachungsanlagen in Hauseingängen zu verzeichnen. In einer Zeit, in der ein Facebook- oder Twitter-Account schon fast zu den Bewerbungsunterlagen gezählt werden muss, das Recht auf Geheimhaltung nicht mehr gewollt oder benötigt wird, wirkt ein Clip über den ach-so-bösen Überwachungsstaat im besten Fall nur ehrenrührig. Im Clip heißt es: „Möchtest du, dass jemand weiß, was in deinem Schlafzimmer passiert?“. Nun ja, gute 50 Prozent aller Kommentare auf Facebook dürften sich wohl genau darauf beziehen und bei nicht wenigen Nutzern gehört ein Foto in Unterwäsche fast zum Grundinventar für die private Onlinekarriere. Aber das wirklich perfide an dieser Situation ist, dass sich hier eine Ökonomie der Aufmerksamkeit entwickelt hat, der man nur schwer entgehen kann, wenn man nicht im sozialen Aus landen will. Analog oder nicht analog, das ist hier die Frage. Andererseits ist es Plattformen wie Facebook und Twitter schlicht und ergreifend nicht möglich, Menschen in ihrer Komplexität abzubilden. Der Mensch wird im besten Fall avatargerecht simplifiziert. Wir werden wohl eher ein neues Wort für unsere wirklichen Freunde finden müssen. Wen also soll es dann bitte noch stören, wenn unser Vermieter oder ein dröger Staatsbeamter weiß, wie wir in Unterwäsche aussehen? Haben wir überhaupt noch einen Grund, uns darüber aufzuregen, ohne uns dabei lächerlich zu machen? Auch dieser Film wurde euphorisch beklatscht. Und zunehmend entstand der Eindruck, dass die Teilnehmer lediglich ihre eigenen Werke würdigten, die Qualität der Clips eher beiläufig war.

Wo Qualität mit quantitativen Größen messbar wird, spricht man von technischer Qualität. Die technische Qualität dieses Festivals bestand in seinen über 30 Beiträgen und der Umsetzung mit Hilfe wurmstichigster Technik in einer wirklich wurmstichigen Umgebung. Wo die Kosten für Nichterfüllung der Anforderungen auftauchen, spricht man von Qualitätskosten. Der Eintritt war an diesem Abend umsonst. Wenn man Qualität als Grad der Übereinstimmung mit Anforderungen sehen möchte, muss man hier deutliche Abstriche machen. Unter einem Dogma versteht man zudem eine fest stehende Lehrmeinung. Nur konnte man hier den Eindruck gewinnen, dass nicht wenige Regieleistungen sehr wohl dogmatisch waren, ergo nur eine Meinung als die Wahre gelten lassen wollten. Das Prinzip aber, ganz unmoralisch formuliert, muss ein anderes sein: Wenn man falsch durch falsch ersetzt, bleibt es immer noch falsch. Basta. Also umdenken. Und überdies – wenn man die Vorsorge als Prinzip der Qualitätsplanung begreift, dann hat dieses Festival durchaus Potential. Nur werden die Organisatoren dann schlecht um das Prinzip der Auslese herumkommen, die der Struktur eines Festivals stets immanent bleibt.

Text: Joris J.