Wir blicken zurück auf das Jahr 2011

Jahresbilanz 2011


Filmszene: "Melancholia"

Filmszene: "Melancholia"

Im Großen wie im Kleinen, politisch wie kulturell. In Berlin und in der gesamten Welt: 2011 war ein stürmisches Jahr, weit mehr als nur für die Filmbranche. In diesem Sinn blicken wir auf ein Jahr voller Eindrücke zurück. Auf Filme und Festivals, die nicht selten als letzte Instanz für ein ambitioniertes, intellektuelles und politisches Kino stehen. Unsere Autoren geben einen Einblick in ihre Bestenliste, schauen aber auch weit darüber hinaus. Die Welt ist eben nicht nur ein Kinosaal.

Der Film ist nur ein Bestandteil

Der Film ist nur ein Bestandteil

DER FILM IST NUR EIN BESTANDTEIL von Joris J.

Unter einem Film kann man erst einmal nichts anderes verstehen als eine kontinuierlich fließende Reizquelle. Im besten aller Fälle stellt er die Demarkationslinie zwischen Seelischem und Somatischem. Es liegt in seiner Macht konventionelle Ansprech- und Aussageformen darstellend zu erzeugen, die die Bedingungen dessen, was überhaupt gesehen und dargestellt werden kann, wirksam verändern. Das Jahr begann mit der Filmreihe „Regie und Regiment„. Zwei Wochen zuvor saß unsere kleine Redaktion im Café am Babylon Kino. Bei der Aufgaben- und Festivalverteilung wurde uns klar, dass Filmreihen und -festivals stetig zunahmen. Sei es, weil Filmfestivals Publikum erzeugen (wie gute zwölf Monate später Volker Schlöndorff beim Around the World in 14 Films konstatierte). Sei es, weil Berlin sich im internationalen Vergleich nun einmal am besten dafür eignet Kindheits- und Jugendträume auszuleben. Sei es Langeweile oder wirkliches Interesse. Während ich den Eindruck nicht los wurde, dass Festivals nicht selten krampfhaft versuchen gute Laune zu verbreiten und damit zumindestens bei mir das absolute Gegenteil bewirken, versuchen die einzelnen FIlmreihen in akribischer Aufarbeitung Altbekanntes im neuen Licht zu präsentieren und Unbekanntes überhaupt auf den Netzhäuten dieser Stadt zu platzieren. Im Gedächtnis geblieben sind mir „Cinemascope„, „Antike Welten„, „The Blues“ und Retrospektiven zu altbekannten Haudegen wie Francois Truffaut oder Claude Chabrol.

Es passierte nicht selten, dass mich Freunde und Bekannte mit der Inversionsfrage aufzogen: „Ist Berliner Filmfestivals ein Filmmagazin?„. Darauf konnte ich mit einem der schönsten Wörter in deutscher Sprache entgegnen: „Jein„. Weiterführend folgte in etwa: „Natürlich sind wir ein Filmmagazin. Nur liegt der Schwerpunkt bei uns halt eben nicht bei einzelnen Filmen.“ „Klassische“ Filmmagazine gibt es mittlerweile wie Sand am Meer. Nur gibt es europaweit nicht ein Magazin, dass den Schwerpunkt bei den Festivals und regelmäßigen Reihen sucht. Und da kommen wir ins Spiel. Der Film ist nur ein Bestandteil eines Festivals. Was passiert um die Reizquelle Film herum? Wie gehen die Zuschauer mit ihr um? Was für Menschen stecken hinter diesen Festivals? Was versprechen sie sich davon? Filme sind deshalb so spannend, weil sie ein Spiegelbild unserer Gesellschaft sind. Die Lieblingsfilme einer Person sagen bedeutend mehr über jemanden aus als die Lieblingsbands und -musiker, denn weghören fällt leichter als wegsehen. So war die Directors Lounge im Februar völlig anders als das achtung berlin-Festival im April. Die Videonale ist in ihrer Dilletanz sympathischer als das No Dogma. Das introvertierte Asian Film Festival gehört gegenüber dem extrovertierten Porn Film Festival zu meinen klaren Favoriten.

Das Publikum richtet in all diesen Fällen seine Phantasie nicht auf das Objekt (den Film) oder auf dessen Zeichen, sondern es kommt darin selbst vor, eingefangen in der Sequenz der Bilder. Womit konnte man sich 2011 am besten einfangen? Mal buzzwordartig gerafft: „Der Gott des Gemetzels“ ist überraschend gut, denn zum ersten Mal habe ich wirklich mitbekommen, zu welcher schauspielerischen Leistung Christoph Waltz tatsächlich in der Lage ist. Es ist das wahrscheinlich beste Kammerspiel seit „Sleuth“ (Kenneth Branagh) – und das will was heißen. „Devil“ (John Erick Dowdle) ist ein gelungenes B-Movie. „Scream 4“ (Wes Craven) liefert die Abrechnung zu der nicht abflauenden Remake-Welle. „The Fighter“ (David O. Russell)  vereint zwei Schauspielkarrieren (Christian Bale und Mark Wahlberg), die unterschiedlicher nicht sein könnten. „True Grit“ (Ethan Coen, Joel Coen.) ist überbewertet. „Tron Legacy“ (Joseph Kosinski) ist Mist, „Troll Hunter“ (André Øvredal) dagegen originell. Desweiteren habe ich mir als Serie „The Wire“ erschlossen und bin begeistert. Für 2012 wünsche ich mir eine Filmreihe mit dem Schwerpunkt Lee Marvin. Unknown Pleasures dürfte sehr interessant werden. Das Fantasy Filmfest verschont einen hoffentlich mit Fehlgriffen wie „Hell“ (Tim Fehlbaum) und achtung berlin zeigt hoffentlich keine weiteren Robert Stadlober-Filme mehr. Als Lektüre zum Schwerpunkt Film sei Georg Seeßlens Blödmaschinen“ empfohlen. Dafür dürfen sie auch weiterhin mich als lesenswerte Koinzidenz im Universum Film begleiten.

Seite 2: FILMFESTE FÖRDERN von Denis Demmerle
Seite 3: ABARBEITUNG DER LISTE von Alina Impe
Seite 4: “DIE KRISE IST EIN PRODUKTIVER ZUSTAND. MAN MUSS IHR NUR DEN BEIGESCHMACK DER KATASTROPHE NEHMEN” (MAX FRISCH) von SuT.

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