Interview mit Luc und Jean-Pierre Dardenne

Filme als sportliche Herausforderung


Filmszene: "Der Junge mit dem Fahrrad", Foto: Alamode Film

Filmszene: "Der Junge mit dem Fahrrad", Foto: Alamode Film

Macht die feenhafte Figur Samantha Ihr Sozialdrama zu einem Märchen?
Jean-Pierre Dardenne: Wir haben in dem Projekt nie einen Film gesehen, der zu einem Sozialdrama werden würde. Uns war schnell klar, dass wir ein modernes Märchen machen, in dem Samantha die gute Fee spielt. Beim Dreh gab es eine Szene, die den Film zum Märchen machte: Bevor Cyril in den Wald geht, ziehen wir sehr weit auf, er macht kurz vor dem dunklen Wald ehrfürchtig halt, ehe der Junge mit dem roten Shirt diesen unheimlichen Märchenwald betritt.

In Ihren Werken verzichten Sie fast gänzlich auf ausgebildete Schauspieler und besetzen stattdessen Ihre Rollen mit Laien. Worin liegt der Vorteil?
Luc Dardenne: Unser Hauptdarsteller ist sehr jung. Es finden sich keine erfahrenen Schauspieler, die 15 Jahre alt sind. Selbst wenn wir jemanden mit Erfahrung finden würden, hätten wir zum Beispiel in „Rosetta“ (1999) trotzdem so besetzt. Rosetta musste ein Mädchen sein, das im Alltag nicht auffällt. Wir wollten ein neues Gesicht. Ähnlich mit Olivier Gourmet in „Le Fils“ (2002), den vorher niemand kannte. Wir haben kein großes Verlangen danach, mit bekannten Schauspielern zu drehen. Die haben ihre eigene Arbeitsweise, an unsere müssten sie sich erst gewöhnen. Wir proben eineinhalb Monate vorher, in denen müssen sie komplett da sein und können keinen anderen Film drehen. Wir kleiden selbst ein, haben eine eigene Maske. Niemand braucht mit der eigenen Maskenfrau zu kommen. Das machen wir. Berühmte Schauspieler haben Probleme, sich daran anzupassen. Sie müssen bei uns viel akzeptieren. Für die ist das sicher nicht einfach.
Jean-Pierre Dardenne: Cécile de France („Chanson d’Amour„) ist eine Ausnahme. Sie ist eine berühmte Schauspielerin, hat sich aber auf uns eingelassen und gearbeitet, wie wir arbeiten.

Ursprünglich arbeiteten Sie nur dokumentarisch, ehe Sie zum Spielfilm wechselten. Warum verabschiedeten Sie sich vom Dokumentarfilm?
Luc Dardenne: Wir sehen den Dokumentarfilm und den Spielfilm nicht als Gegenspieler. Ein Dokumentarfilm ist immer die Rekonstruktion einer Wirklichkeit. Die Fiktion ermöglicht es uns, unsere Geschichten zu erzählen, da wir so in die Geheimnisse der Wirklichkeit, in das Unsichtbare eindringen können. Wir zeigen so Dinge, die der Dokumentarfilm verwehrt. Wir betreten Orte, die wir mit dem Dokumentarfilm nie betreten könnten. Ein Mord ist im Dokumentarfilm nicht umzusetzen. Oder wie jemand einen anderen sterben lässt. Da wird nie ein Filmemacher dabei sein. Das ist aber nicht unser Gebiet.

Sondern?
Luc Dardenne: Uns interessiert die Komplexität menschlicher Beziehungen. An dieser Stelle nähern wir uns der Wirklichkeit näher an, als es uns der Dokumentarfilm erlauben würde. Wir zeigen ein Kind, das von seinem Vater aufgegeben wird. Die Liebe einer Frau kann es retten. Das ist eindeutig Fiktion. Eine fiktionale Wirklichkeit, die in einem Dokumentarfilm unmöglich wäre. Spielfilm muss für die Wirklichkeit offen bleiben. Verschließt er sich vor der Wirklichkeit, kann er keinen neuen künstlerischen Bereich erschließen.

Interview: Denis Demmerle

Der Junge mit dem Fahrrad („Le gamin au vélo„), Regie:  Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne,  Hauptdarsteller:  Cécile de France, Jérémie Renier, Fabrizio Rongione, Thomas Doret, Egon Di Mateo, Kinostart: 09.02. 2012

1 2