Epitaph: Zum Tod von Chris Marker
Durchaus bestimmt
Bilderkriege toben überall – auf youtube und youporn, in Krisengebieten und Kaffeehäusern, im Plattenladen und auf dem Flohmarkt. Der Zweifel an wissenschaftlichen Bildtechniken gehört ebenso dazu wie die nur Schulterzucken auslösende Entlarvung manipulativer Mediendarstellungen. Tendentiell steht die Skepsis und die Ironie momentan in der Hausse, jede Form von Idealismus in der Baisse. Die Kaskade des Überwältigungsinstruments Bild sollte den Menschen vom Gefühl des Zweifels befreien und spülte ihn stattdessen bis zur Gleichgültigkeit aus. Diese „reine“ Welt vollständig entleert von künstlichen, also von Menschen geschaffenen Vermittlungen, schwebte Chris Marker mit Sicherheit nicht vor. Eigentlich hieß er Christian-François Bouche-Villeneuve. Zweimal Doppelnamen. Zweimal: „Das merkt sich kein Mensch“. Ob er nun in Ulan-Bator, Neuilley-sur-Seine oder Belleville geboren wurde, ist eigentlich egal. Seine Heimat spielte in seinem Werk ohnehin keine Rolle. Aber die Zeit und die Reise. Beide metamorphieren in seinen Arbeiten Verantwortung und suchen nach evolutionärer Besserung.
„La Jetée“ allerdings endet, obwohl beide Grundimpulse miteinander verbunden sind, in einer Sackgasse. Die Zeitreise ist hier keine progressive Kleine-Große-Jungen-Phantasie. Sie evoziert eine Welt, in der einschließlich des eigenen Todes alles schon geschah. Der Zeitreisende ist bei ihm ein Kurator des (eigenen) Lebens. So sind die Wendungen interessant und überraschend, aber das Schlimmste – das Wissen um den eigenen Tod – ist eine trockene Pointe. Ein Junge sieht auf einem Flughafen einen Mann sterben. Dieser Mann ist (wird) er selbst (sein). So versteinert dieser Junge in der Gestalt des Veluzifers. Fähig durch die Zeit zu reisen, unfähig am Leben teilzunehmen. Seine Welt ist eine Nekropolis. „La Jetée“ große künstlerische Stärke sind die grobkörnigen Schwarz-Weiß-Fotografien, die eine abwesende Anwesenheit suggerieren. Elegisch flackern sie vor sich hin. Der Funke der Hoffnung will sich nicht entzünden.
Nun war Chris Marker aber nicht bloß ein brillianter Eigenbrötler, der sich gleichermaßen um Produktion, Regie und Drehbuch mit Talent und Hingabe kümmerte und dem Sujet der Zeitreise eine interessante, wenn auch triste Nuance abgewinnen konnte. Ende der 1960er gründerte er die Filmkooperation SLON (Societe pour le Lancement des Oeuvres Nouvelles). Im Rahmen dieser Kooperation entstand 1967 „Loin du Vietnam„, der sich mit dem „Engagement“ der Amerikaner in Vietnam auseinandersetze und als Beitragende Jean-Luc Godard, Agnes Varda, Joris Ivens, William Klein und Claude Lelouch versammeln konnte. Diese Charakterköpfe bei Laune und bei der Stange zu halten, sprechen für einen leidenschaftlichen Überzeugungstäter. Sinngemäß etwa: Wir müssen handeln und nicht nur Wasserpfeife rauchen. Das Verhältnis zum Engagement hat sich heute ebenso geändert wie die gefühlsmäßige Nähe zu einem Idealismus oder dem Sarkasmus. Momentan erlebt es eine kalte Progression. Engagement ist ein Unwort geworden: Ein Imperativ, der sich längst nicht mehr gegen den Terror der Gesellschaft richtet, sondern im Gegenteil diesen Terror exekutiert. Er besteht darin, dass man das, was man ohnehin muss, auch obendrein noch mit allen Fasern zu wollen habe. Engagement steht heute im Zeichen von äußerstem Leistungswillen und körperlicher Bereitschaft zu allem und jedem. Engagement meint den unbedingten Willen, jeden noch so großen Unfug als Praktikant oder Trainee mit sektenartiger Hingabe und irrationalem Fleiß mitzumachen, irgendeine Form der Anstellung schließlich als Erfüllung und zugleich endlose Fortschreibung einer schmerzenden Initiation zu akzeptieren.
Auch das schwebte Chris Marker nicht vor. Er war ja auch nie der typische schaltragende Idiot, wie ihn das internationale Feuilleton so sehr liebt. Seine Filmografie umfasst zahlreiche Kurzfilme und eine Anzahl von Filmen, die die Standard-Laufzeit von 90 bis 120 Minuten deutlich sprengen. In die letzte Kategorie fällt „Le fond de l´air est rouge„, eine 230 minütige Montage, die die Kämpfe der Neuen Linken von 1967 bis 1973 festhält. Geboren wurde Chris Marker am 29. Juli 1921. Er erstarb am 29. Juli 2012. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man denken, dass er das geplant hat – oder, um es trocken zu formulieren: Er lebte durchaus bestimmt.
Joris J.