Interview mit „360“-Regisseur Fernando Meirelles

Grenzen haben ihre Bedeutung verloren


Wie lassen sich in dieser modernen Welt Sitten und Bräuche konservieren?
In erster Linie durch Leute, die nicht reisen… und nicht fernsehen. Die keinen Zugang zum Internet haben. Das sind die, die ursprüngliche Kultur erhalten. Ich lebe im kosmopolitischen São Paulo, eine internationale Großstadt mit Millionen von Einwohnern. Wir sehen dort die gleichen Sachen im Fernsehen, essen die gleichen Dinge wie überall auf der Welt in großen Städten. Aber einmal im Monat mache ich mich auf zu einer Farm in einem kleinen Dorf, das 500 Kilometer von São Paulo entfernt ist. Die Leute dort leben recht abgeschnitten von der restlichen Welt. Sie haben ihr eigenes Timing. Ihr Tag ist länger. Sie sind es, die Kultur erhalten werden. Dort esse ich das Essen der Einheimischen und spreche wie sie. Die Kultur ist eine ganz andere dort.

Was zieht Sie zu dieser Farm?
Mich reizt, dass es dort anders ist. Sao Paolo ist gut vernetzt. Das bedeutet für mich E-Mails, Internet und Meetings. Dort habe ich kein Telefon und kein Internet. Es ist wie eine Zeitreise 20 Jahre in die Vergangenheit. Dort weiß ich, dass ich von Montag bis Freitag bleibe und jeder, der mich erreichen will, muss eben warten. Ich mag dieses Gefühl. Diese moderne Welt mit ihrer modernen Technik hat uns verarscht. Vor 20 Jahren dachte man, dass Technik für Freiheit sorgen wird. Dass die Menschen Zeit haben werden, um zu Schreiben und zu Lesen, für Kultur. Die Maschinen würden für uns arbeiten. Das Versprechen lautete: Technik wird uns von Arbeit befreien. Genau das Gegenteil ist eingetroffen. Wir sind zu Sklaven geworden. Die Arbeit verfolgt uns.

Deutschland diskutiert eine Forderung der Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, die zum Schutz der Angestellten Regeln forderte, wann diese erreichbar sein müssen…
Genau das meine ich. Ohne die Maschinen hätten wir mehr Freizeit. Aber der Job folgt uns. Ich persönlich benutze kein Handy. Ich habe nicht mal eines. Ich bin gerne nicht zu erreichen. Es ist eine tolle Erfahrung nicht erreichbar zu sein. Perfekt, um zu relaxen. Wir müssen lernen damit umzugehen.

Wie haben Sie dieses internationale Ensemble zusammengestellt?
Dafür waren mein Caster und mein Produzent verantwortlich. Problematisch waren die beiden slowakischen Mädchen, weil es für deren Rollen keine passende Profi-Schauspielerin gab. Beim Vorsprechen bin ich auf Gabriela Marcinkova gestoßen. Eine tolle Schauspielerin mit einem aufregenden Gesicht. Der russische Part war auch sehr schwierig. Wir sahen eine Reihe von Filmen im Internet, bis wir Vladimir Vdovichenkov als letzten fanden. Allerdings ist er in Russland ein großer Star und sein Agent riet ihm vom Film ab, weil wir ihm viel weniger boten, als das, was er in Russland gewohnt ist. Erst als wir seinen Agenten übergingen und ihn direkt anriefen, klappte es. Jamel Debbouze stand als erster fest. Mit ihm wollte ich unbedingt arbeiten. Anthony Hopkins, Rachel Weisz und Jude Law waren schnell ausgesucht. Gesichter mit einem Wiedererkennungswert helfen, um ein Publikum zu finden. Mit Jude Law fühlst du dich verbunden, wenn du ihm in einem Café in Wien begegnest. Ich nutzte die Persönlichkeiten meiner Darsteller und präsentiere sie als meine Charaktere.

Ihr Film verknüpft Kurzfilme verschiedenster Genre miteinander. Haben Sie die auch wie unterschiedliche Kurzfilme, also einen nach dem anderen, gedreht?
Es war tatsächlich wie das Drehen von Kurzfilmen: in zig Städten mit unterschiedlicher Besetzung vor und hinter der Kamera. Eine meine größten Sorgen war, dass der Film sich wie ein Kurzfilmfestival anfühlen könnte. Mit verknüpften Enden. Die Herausforderung bestand darin, die Geschichten organisch miteinander zu verbinden und zu vermischen, indem Charaktere wieder auftauchten, die man dort nicht erwartet hätte. Das stand so nicht im Buch.

Unterscheidet sich der Film stark vom Drehbuch?
Alles steht so im Drehbuch, ich montierte es nur anders. Das brasilianische Mädchen taucht anfangs auf und kehrt später in einer anderen Geschichte zurück. Und doch ist das von all den Filmen, die ich gedreht habe, der Film, bei dem die Endversion am nächsten am Drehbuch ist.

Die Fragen stellte Denis Demmerle. Das Interview erschien bereits beim Interview-Magazin planet-interview.de

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