Virtual Realities Film Week im Kino Central
Der andere Blick
Den Status Quo anzweifeln, ihn nicht bestätigen – das ist eine Aufgabe von Film, der längst nicht jeder gerecht wird. Schlimm ist das meist nicht, höchstens langweilig. Die Virtual Realities Film Week schreibt sich ein Programm auf die Fahnen, das mit letzterem Phlegma nichts gemein haben will. Elf Filme, vom 3. bis 9. Dezember im Kino Central zu besichtigen, wagen den Versuch, der sogenannten Realität ein paar zusätzliche Facetten abzuringen – solche, die es vorher in dieser Form noch nicht auf die Leinwand geschafft haben. Das von Christa Joo Hyun D’Angelo kuratierte Programm befasst sich dabei mit verschiedenen Haltungen zu den Themen Liebe, Sexualität, Gender, Partnerschaft, Jugend und Identität. Eine Verweigerung üblicher Erzählstrategien ist ihnen allen inhärent. Kunstfilmalarm. Na dann mal los.
In „Regretters“ (Marcus Lindeen, Schweden 2010) sitzen sich zwei gegenüber, Orlando und Mikael, deren beider Weg chirurgische Maßnahmen zur Folge hatte – eine Geschlechtsumwandlung. Wie der Titel vermuten lässt, ist ihre Überzeugung über den Eingriff mit den Jahren gewichen, nun gilt es in Lindeens vielgepriesenen Dokumentarfilm Resümee zu ziehen. Einen Weg der Transformation gehen auch die Protagonisten in Jake Yuznas Debütfilm „Open“ (USA 2010), der in seinem Veröffentlichungsjahr auf der Berlinale umgehend mit dem Teddy Award ausgezeichnet wurde. Pandrogeny, der Wunsch, sich seinem Partner äußerlich so weit wie möglich anzugleichen, ist spätestens seit „The Ballad of Genisis and Lady Jaye“ (Marie Losie, USA 2011) einem größerem Publikum ein Begriff. Abstrakt bleibt er dennoch, wenn auch faszinierend. „Open“ fügt jenem Ideal ein paar weitere Gedanken hinzu.
Gender, mitsamt allen möglichen Verunsicherungen, ist auch Inhalt von „She Male Snails“ (Ester Martin Bergsmark, Schweden 2012), einem Hybriden aus Märchenbilden und Dokumentation. In klaren, poetischen Aufnahmen findet „She Male Snails“ ungewöhnliche Antworten auf meist unsichtbare, aber kaum ungewöhnliche Fragen. (hier unsere Filmkritik) Einblicke in eine queere feministische Community, die unter anderem gemeinsam queere feminine Pornofilme dreht, liefert Martik Östberg in „Sisterhood“ (Deutschland 2012). Das Innenleben jugendlicher Amokläufer zu ergründen, versucht hingegen Sue de Beer in Form der Videoinstallation „Hans & Grete“ (2003). Ebenso ist de Beers Arbeit „Black Sun“ (2005) im Rahmen der Virtual Realities Film Week zu sehen.
„Untitled Film Stills“ (Sam Icklow, Australien 2007) hat sich zur Aufgabe gesetzt, die Höhen und Tiefen romantischer Gefühle einzufangen. Eine kommerziell-tradierte Erzählung braucht Icklows Film dabei nicht. Und wenn die Synopsis bereits den schönen Satz „It is melodrama but it also banal.“ enthält, geht man schon mal ins Kino, ohne zu wissen, was einen dort eigentlich erwartet. So viel Ehrlichkeit gebührt belohnt. Dieses „nicht wissen, was einen eigentlich erwartet“ schwingt durch das gesamte Programm der Virtual Realities Film Week. Einen wenig Mut gehört also dazu. Und der lohnt sich hin und wieder doch.
Carolin Weidner
Virtual Realities Film Week 3. bis 9. Dezember, Kino Central, Programm unter www.virtualrealities2012.com