Ulrich Seidl im Interview zu „Paradies: Liebe“
Es geht immer um Machtverhältnisse
Gemeinsam mit Michael Haneke steht Regisseur Ulrich Seidl international für das österreichische Autorenkino. Der gebürtige Wiener polarisiert mit seinem authentischen Kino, welches er mit dokumentarisch anmutenden, radikalen Werken umsetzt. Nach Erfolgen wie „Hundstage“ (2000) oder „Import Export“ (2007) gelingt Seidl mit seiner Paradies-Trilogie ein besonderer Coup: Die drei Teile debütieren innerhalb eines Jahres auf den drei großen A-Festivals in Cannes, Venedig und Berlin. Der erste Teil, „Paradies: Liebe„, startet am 3. Januar bundesweit. Er beschäftigt sich mit Sextouristinnen in Kenia und ihren Partnern. Im Gespräch spricht Seidl über Schönheitsideale, seinen Ansatz mit Schauspielern und Laien zu arbeiten sowie über die Bedeutung von Macht in Partnerschaften.
Herr Seidl, im Zentrum des Films „Paradies: Liebe“ stehen Frauen, die nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprechen und nach Kenia fahren, auf der Suche nach Liebhabern. Wie treten Sie an Frauen heran und erklären denen, dass Sie genau das für Ihren Film suchen?
Es sind Schauspielerinnen. Natürlich gibt es da nur wenige, aber die musste ich finden. Die meisten Schauspieler sind eitel – egal ob Mann oder Frau. Die wollen nur von ihrer besten Seite gezeigt werden. Das ist für mich keine Arbeitsbasis. Mein Anforderungsprofil war klar: Eine Frau, die nicht den gängigen Schönheitsvorstellungen entspricht. Dazu muss man als Schauspielerin stehen und sagen: „Okay, ich zeige meinen Körper“. Es hilft sicherlich, dass ich anderer Meinung bin, was ich ihnen auch immer wieder gesagt habe. Im Orient sind übergewichtige Frauen höchst geliebt. In vielen anderen Kulturen auch. Vielleicht sind sie mit ihrem Körper nicht in der richtigen Kultur.
Was empfinden Sie als schön?
Das ist individuell zu sehen. Ich kann das nur von Fall zu Fall sagen. Das hat mit einem selber zu tun. Wir leben in einer Welt voll verordneter Schönheitsideale, die diese auch ständig medial reproduziert. Beinahe diktatorisch. Man muss sich fragen, wieso das passiert. Wieso sich solche Dinge auch ändern. Wer gibt da den Ton an? Betrachten wir Frauenbilder von vor 30 Jahren, haben Frauenkörper anders ausgesehen. Schön war anders. Nehmen wir Haare: Das hat sich in einer Generation verändert. Die Frage ist, warum wir uns dem unterwerfen?
Die romantische Vorstellung von Liebe ist vom körperlichen losgelöst und lässt sich mit „Schau mir in die Augen“ zusammenfassen und doch lassen wir uns auf ein Spiel ein, in dem wir uns über Körper definieren…
Wir sind Menschen, die in unseren Liebesbeziehungen abhängig von unseren Körpern sind. Eine Frau gefällt oder nicht, das fängt mit ihrem Geruch an. Das ist alles Körper, das lässt sich nicht vergeistigen. Man versteht, was meine Hauptdarstellerin Margarethe Tiesel meint, wenn sie sagt, sie will einen Mann haben, der sie nicht bewertet und ihr nur in die Augen schaut. Aber es sieht nun mal anders aus. Es basiert auf Körperlichkeit.
Wie haben Sie diesen weiblichen Sextourismus als Thema für sich entdeckt?
Ursprünglich schrieb ich ein Drehbuch zum Thema Massentourismus. Dieser Film sollte in vielen Episoden parallel über Menschen erzählen, die in die Dritte Welt fahren. Ich schrieb das Buch vor längerer Zeit und habe es wieder aufgegriffen, aber beim Schreiben kamen neue Ideen dazu, wie die, einen Film nur über Frauen zu machen. Die Geschichte über eine extrem gläubige Katholikin kam hinzu. Über den weiblichen Sex-Tourismus wollte ich in einer zweiten Geschichte erzählen, zu der kam noch die Lolita-Geschichte eines jungen Mädchens, die mich schon einmal für das Theater interessiert hatte. Es entstand eine Trilogie, über drei Frauen und deren Sehnsüchte.
Wie sind Sie den Film angegangen?
Afrika habe ich gewählt, weil es geschichtlich, wie auch heute, sehr nahe an Europa ist. Der Kontinent ist, wie das Land Kenia, auf der einen Seite sehr schrecklich, aber auf der anderen sehr schön. Über die so genannten „Beach Boys“ habe ich ausführlich recherchiert. Ich lernte viele von ihnen kennen, um zu erfahren, wer die sind, wie sie leben, wie ihre Familien aussehen und was sie wollen. Unter ihnen musste ich Darsteller für meinen Film finden, das war die eine Seite. Die andere war die der „Sugar-Mamas“. Ich recherchierte über zwei Jahre in Österreich und der Schweiz, aber auch vor Ort, wo ich nach Schauplätzen gesucht habe.
War es einfach, mit den Sextouristinnen über das Thema zu sprechen?
Nein, das ist tabuisiert. Viele Frauen berichteten, dass sie in ihrem Bekanntenkreis nicht erzählen, wo sie sind. Gerade sie vor Ort anzusprechen, war nicht leicht, wenn man sie quasi erwischt hat.
Hat dieses Erwischen etwas von einem In-Flagranti-Moment?
Die wissen, wenn da jemand wie ich kommt, ein Filmemacher oder Journalist, dass der etwas wissen will. Sie aber wollen privat sein. Die wollen das nicht. Aber: Wenn du zehn Leute ansprichst, erzählen dir zwei etwas.
Sie arbeiten immer auch mit Laienschauspielern. Wollen Sie die eigenen Ideen und Thesen anhand von deren Geschichten überprüfen?
Das ist mein Ansatz. Ich würde nie einen Schauspieler aus Nairobi suchen, der von diesem Milieu, von dem, was die „Beach Boys“ tun, überhaupt keine Ahnung hat. Im besten Fall muss sich meine Hauptdarstellerin Margarethe Tiesel vorstellen können, wie das ist und warum sie so etwas macht – auch wenn sie es selbst noch nie gemacht hat. Bei den „Beach Boys“ schöpfe ich auch aus deren Erfahrung. Das war eine wichtige Anforderung. Sie sollten schon mit weißen „Sugar-Mamas“ zu tun und mit ihnen Verhältnisse gehabt haben.
Die „Beach Boys“ spielen also eine Rolle ihres Lebens. Wie beeinflusst das den Film?
Sie spielen trotzdem, aber mit ihren Erfahrungen. Sie übernehmen eine Rolle in einem Spielfilm. Obwohl er sich selbst spielt, bleibt der Deckmantel ein Schauspieler in diesem Film zu sein. Er kann für sich sagen: Ich habe eine Rolle gespielt. Ich habe für diese Rolle die und die Erfahrungen gemacht.
Könnte man die Schauspieltätigkeit der Laien auch als eine andere Art von Prostitution betrachten, nur eben als eine Fortsetzung mit anderen Mitteln? Schließlich kommen auch Sie als Regisseur nach Kenia und bezahlen für eine Dienstleistung.
Das finde ich nicht. Ich mache sie nicht zu Bettlern. Man findet dort unterschiedliche Welten. Eine touristische, westlich geprägte Welt, mit westlichen Preisen, die letztlich ein Ghetto innerhalb des Landes ist. Das ganze Geld dort, geht wieder ins Ausland. Die wenigen, die dort daran verdienen, sind Kellner und Putzkräfte. Viele, die vom Westen profitieren wollen, unterwerfen sich dem. Die Massai, die dort alles ausverkaufen, Kultur und Identität – das ist schrecklich anzusehen. Was ich mache, ist ein normaler Vorgang. Ich engagiere jemanden und er bekommt dafür Geld.
Wie entstehen Ihre realistischen Dialoge?
Die sind alle improvisiert. Im Drehbuch stehen keine Dialoge und am Set gibt es kein Drehbuch. Meine Vorbereitung mit den Schauspielern besteht darin, ihnen ein Gefühl für den Film zu geben. Ihnen meine Absicht für den Film und ihre Rolle darin zu erklären. Sobald das da ist, werden sie das mit Hilfe der Improvisation schaffen. Ich finde das Zusammenspiel von Absichten, von dem, was man erreichen will, mit dem Zufall auf der anderen Seite, wie gerade den Dialogen, spannend. Das ist für mich viel interessanter als ein fertiges Ding umzusetzen. Das Zusammenspiel von Schauspielern und Laien funktioniert ohne Netz oder Verabredungen. Man weiß nicht, wohin man kommt.
Daraus entsteht eine besondere Form des Realismus. Sie erzählen eine fiktionale Geschichte mit einem dokumentarischen Ansatz. Können die Zufälle das große Ganze umwerfen?
Ich weiß, wo die Reise hinführen soll. Ich bin aber wahnsinnig frei, auf dieser Reise Neues zu finden und Anderes zu verwerfen. Ich taste mich aufgrund meiner Ergebnisse vor und entscheide, was als nächstes gedreht wird, welche Richtung folgt.