“Lore”-Regisseurin Cate Shortland im Gespräch

Der menschliche Instinkt sträubt sich gegen den Hass



Sie sind selbst Jüdin und haben einen persönlichen Bezug durch die Familie Ihres Mannes, die seinerzeit Berlin und Deutschland wegen der Nazis verlassen hat…
Ja, sie lebten in Charlottenburg. Seine Großmutter ist mittlerweile 96. Eine wundervolle Frau, mit der ich mich intensiv austausche. Die Fotografien, die Thomas in seinem Geldbeutel wie einen Schatz hütet, sind echte Bilder von ihr und ihrem Freund, den sie später heiratete. Alle zwei Wochen führen wir sie in ein menschenleeres chinesisches Restaurant aus, weil sie so schlecht hört. Dort erzählt sie von früher, was ihr deutlich leichter fällt, als über das hier und jetzt zu sprechen. Zu Deutschland pflegt sie eine Hassliebe. Einerseits ist sie sehr stolz auf Deutschland und liest immer noch eine Kulturzeitung, die sie abonniert hat, spricht über deutsche Architektur und Leistungen des Landes – aber zurückgekehrt ist sie nie.

Sie wählten einen ungewöhnlichen Weg und drehten den Film in Deutsch und nicht in Ihrer Muttersprache Englisch.
Dadurch ist er wahrhaftig. „Lore“ in Englisch zu drehen, wäre eine riesige Hürde für das Publikum gewesen, was die Glaubwürdigkeit angeht. Die Kinder sprachen noch kein Englisch, während wir drehten. Einzig Saskia Rosendahl spricht die Sprache gut. Es hätte uns gezwungen, nach Sprache und nicht nach Talent zu casten. Für die Rolle der Lore sahen wir 300 Mädchen. Sie ist atemberaubend. So überzeugend, unheimlich körperlich präsent und unheimlich tough. Sie war 17 beim Dreh und ist jetzt 18.

Wie haben Sie Saskia Rosendahl auf die Rolle vorbereitet?
Sehr beeindruckend war ein Workshop, den wir hier in Berlin mit Frauen vom damaligen „Bund Deutscher Mädel“ veranstaltet haben. Wir schauten sehr viele Dokus zusammen. Eine zeigte eine Jüdin, die aus ihrem Umfeld gerissen wurde, als sie zwölf war. Der Tenor war, dass sie es verdient haben müsse, weil sie ja Jüdin sei. Aber ein kleines Mädchen rannte in den Hinterhof und musste sich dort übergeben. Diese Szene war für Saskia und mich unheimlich wichtig, da es die Doktrin auf der einen Seite zeigte und gleichzeitig einen menschlichen Instinkt, der sich dagegen sträubt. Dieser Zwiespalt war enorm wichtig für die Rolle. Obwohl ihr Kopf ihr etwas anderes sagt, wehrt sich der Körper gegen den Hass. Ein Hass der nie gewinnen wird.

Lore ist ein Mädchen, das auf sich allein gestellt ist und Verantwortung übernehmen muss. Trafen Sie reale Vorbilder?

Sehr viele! Sie erzählten von der sexuellen Gewalt, die ihnen widerfuhr und von der sie Zeugen wurden.

Ihr Film zeigt viele Ruinen und gebrochene Menschen, aber keine Gewalt. Die scheint nur einen Moment zurück zu liegen, ist beinahe noch spürbar, aber sichtbar ist sie nicht…
Aber diese Stille – alle berichteten mir von dieser unheimlichen Stille des Krieges. Es gab kein Benzin, weshalb keine Maschinen arbeiteten. Eine ungewohnte, totale Ruhe, die ich einfangen wollte. Eine Mutter, die einen LKW hört, weiß, dass das ein Armee-LKW sein muss, weil sonst nichts funktioniert. Das sind kleine abstrakte Details, die den Film prägen.

Lore und ihre Geschwister schlagen sich über hunderte Kilometer durch ein ganzes Land. Dabei lassen sie immer mehr ihrer Habseligkeiten und damit ihre Vergangenheit zurück. Ist das sinnbildlich zu verstehen, für die Überzeugungen, die sie auf ihrer Reise zurücklassen?
Ja, am Anfang ist alles in deren Leben falsch. Sie leben in einem jüdischen Haus, das ihnen nicht gehört, benutzen Sachen, die ihnen nicht gehören, mit Eltern, die einer falschen Ideologie verbunden sind. Bald bleibt ihnen nichts als Leib und Seele. Sie müssen sich neu erfinden.

Nach all den Überwindungen erreichen Lore und die Kinder das Haus der Großmutter, wo die Zeit still zu stehen scheint…
Die Großmutter kommt aus der Arbeiterklasse und hat nie aufgehört, an den Nationalsozialismus zu glauben. Genau wie ganz viele Menschen dieses Alters. Die waren wütend, den Krieg verloren zu haben. Die waren am Boden zerstört, ob der erlittenen Verluste, aber sie glaubten an die Ideen des Regimes. Die Juden zu Feinden zu machen, war eine davon.

Die Fragen stellte Denis Demmerle.

Lore“ Regie: Cate Shortland, Hauptdarsteller: Saskia Rosendahl, Sven Pippig, Hans-Jochen Wagner, Ursina Lardi, Mika Seidel, Nele Trebs,
Kinostart: 1. November 2012
DVD-Release: 31. Mai 2013 -> GEWINNSPIEL

Der Film feierte seine Premiere am 9. Juni 2012 beim Sydney International Film Festival in Australien.
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