Cannes 2016: Goldene Palme für Ken Loach und „I, Daniel Blake“

69. Festival de Cannes: Zwischen Regen, Terrorangst und Frauenpower



Interessant ist jedoch ein anderer Aspekt: In diesen vier genannten Filmen sind die Hauptrollen jeweils weiblich besetzt. Wenn man so will, könnte man eine Art Leitmotiv des gesamten Festivals erkennen. Nicht nur dass die vier offiziellen Jurys in einer austarierten Geschlechterbalance aus jeweils der gleichen Anzahl Frauen und Männern zusammengestellt sind und drei der Wettbewerbsfilme von Regisseurinnen gedreht wurden, in fast der Hälfte aller Filme in der Hauptsektion standen Frauen im Zentrum der Geschichte und auch in den Nebensektionen waren es nicht viele weniger. Darüber hinaus brachte das Festival nach 25 Jahren Susan Sarandon und Geena Davis, die legendären „Thelma & Louise“, wieder zusammen, die 1991 noch den Eindruck hinterlassen hatten, dass sie die Art wie Hollywood Frauen im Film darstellte, radikal verändern könnten.
2007 gründete Geena Davis ein Forschungsinstitut, das sich eben diesem Thema, der Repräsentation der Geschlechter in den Massenmedien widmet. Die Ergebnisse der Studien sind allerdings deprimierend. Aktuelle Untersuchungen ergaben, dass auf den elf wichtigsten Weltmärkten in der Filmindustrie (zu denen auch Deutschland zählt) nur 23 Prozent der produzierten Filme zwischen 2010 und 2012 mit einer weiblichen Hauptrolle besetzt waren und nur sieben Prozent davon von Regisseurinnen verfilmt wurden. Offenbar versuchte Cannes in dieser Hinsicht mit seinem Programm ein verstärktes Augenmerk auf das Schaffen der Frauen im Filmbusiness zu richten, um auf die global gesehen durchaus dramatische Situation aufmerksam zu machen.

Abgesehen von der Frauenpower und den weiblichen Hauptrollen in Cannes, richten viele Filme ihren Fokus auf intime menschliche Schicksale und den jeweils radikalen oder stillen Umgang mit den Herausforderungen. Dramatisch wird das voranschreitende Auseinanderdriften der Gesellschaften beschrieben. Neben Jodie Fosters lautem und eher plakativem Film „Money Monster“ mit George Clooney und Julia Roberts in den Hauptrollen, stehen die in ihrem politischen Ton kaum überhörbaren, aber leise radikalen Filme beispielsweise von Ken Loach, Christian Mungiu oder Kleber Mendonça Filho.

Mit „I, Daniel Blake“ meldet sich Ken Loach mit gewohnter Eindringlichkeit zurück. Er beschreibt in seinem aktuellen Film, wie die Menschen hinter Zahlen zurückbleiben und wie Ausgrenzung als Prinzip und Kalkül von Bürokratie funktioniert. Die Jury belohnte den Großmeister mit der Goldenen Palme, dem Hauptpreis des Festivals.

Auch der rumänische Wettbewerbsbeitrag „Bacalaureat“ des Regisseurs Christian Mungius (2007 gewann er mit „Vier Monate, drei Wochen und zwei Tage“ die Goldene Palme) und der brasilianische Film „Aquarius“ von Kleber Mendonça Filho beschäftigen sich auf markante Weise mit den Schicksalen Einzelner und wie sie versuchen, sich gegen die Mechanismen der Macht zu stemmen. Im Großen und Ganzen dominieren allerdings in diesem Jahr Familiendramen und zwischenmenschliche Beziehungen den Wettbewerb.

Am Ende war es schließlich wie so oft die Reihe „Quinzaine des Réalisateurs“, die Sektion, die vor allem für die Vielfalt ihrer Geschichten, ihre Lebendigkeit und nicht zuletzt auch für den Mut ihrer Künstler, Filmemacher wie Protagonisten steht, die den größten Zuspruch fand. Gefeiert wurden in diesem Jahr neben dem von vielen mit Spannung erwarteten Dokumentarfilm um Julian Assange „Risk“ (von Laura Poitras) auch Pablo Larraíns „Neruda“ und Kim Nguyens „Two Lovers and a Bear e Poesia„. Abzuwarten bleibt nun erneut wieder, welche Filme es von Cannes aus in die deutschen Kinos schaffen.

Alberto Cassani
(übersetzt von SuT)

Die Gewinner im Überblick…

1 2 3