Interview mit Teresa Vena, Leiterin des Film:Schweiz Festivals (29.7.-4.8.)


Eine Schweizerin in Berlin: Teresa Vena, BFF-Co-Chefredakteurin und Leiterin von Film:Schweiz

„Mich interessieren Filme, die sich mit sozialen und politischen Realitäten der Schweiz auseinandersetzen“

BFF-Co-Chefredakteurin in doppelter, nein in dreifacher Funktion: Teresa Vena hält nicht nur mit die Fäden bei Berliner Filmfestivals zusammen und fährt als Filmkritikerin durch die Filmländer dieser Welt – sie hat auch 2017 mit dem Film:Schweiz ein Festival gegründet, das sie seither leitet. Als gebürtige Schweizerin, die alle drei Landessprachen beherrscht, versucht sie die oft im Ausland eher stiefmütterlich behandelte schweizerische Filmkunst in ihrer ganzen Bandbreite abzubilden. Marie Ketzscher hat von Chefredakteurin zu Chefredakteurin mit ihr über Highlights dieses Jahres, den „typischen Schweizer Film“ sowie die Schwerpunkte Migration und Dürrenmatt gesprochen.

Berliner Filmfestivals: Wie kamst du auf die Idee, das Film: Schweiz zu machen?
Teresa Vena: Die Schweiz ist nicht nur in Deutschland mit vielen, oft positiven, Klischees behaftet. Denkt man an die Schweiz, auch wenn es für Deutschland ein Nachbarland ist und man erwarten könnte, dass man sich durchaus nahe stehen würde, fällt dem Durchschnittsdeutschen Kultur erst sehr spät oder vielleicht gar nicht ein. Die Schweizer wissen ein X-faches mehr über Deutschland als umgekehrt. Und als ich zu Beginn nach Deutschland kam, war ich darüber sehr überrascht. Das Interesse an Schweizer Kultur ist in Berlin fast inexistent. Dem wollte ich entgegenwirken. Ich musste aber auch erkennen, wieso das vor mir niemand gemacht hatte.

Es gibt ein Restaurant mit Schweizer Spezialitäten (Schwarze Heidi, Kreuzberg) und einen von einem fantastischen Paar geführten Lebensmittelladen (Chuchichästli, Wilmersdorf), aber Film ist nicht präsent, während Berlin praktisch jeder Kulturregion eine Filmreihe oder ein Festival widmet. International wird Schweizer Film nur fragmentarisch wahrgenommen. Oft haben Filme Erfolg, die zwar mit Schweizer Geld produziert worden sind, aber mit Schweizer Realität kaum etwas zu tun haben. Wegen der Viersprachigkeit, aber auch der extremen Dezentralisierung ist es schwierig, eine einheitlich Schweizer Identität zu definieren und damit auch die des Schweizer Films. Das Festival soll das widerspiegeln, aber eben auch die Gemeinsamkeiten herausstreichen und insbesondere eine Plattform bieten, über Film, Schweizer Künstler und eben auch Kultur im weiteren Sinne zu sprechen.

Im Programm finden sich Filme aus unterschiedlichen Jahrzehnten. Nach welchen Kriterien wählst du das Programm aus?
Meine Programmauswahl mache ich von meinem persönlichen Geschmack und Qualitätsverständnis abhängig. So habe ich das seit der ersten Ausgabe gehandhabt. Es hat sich dann von selbst gezeigt, dass sich pro Ausgabe größere Themen herausgestellt haben. Ich habe selbst nicht danach gesucht. Ich habe aber für mich definiert, was ein Schweizer Film für mich ist. Dieser Rahmen ist bei der Schweiz im Vergleich zu anderen Filmländern noch etwas dringender nötig, denn die Schweiz ist sehr aktiv in der Filmproduktion und Co-Produktion. Wenn aber Geld geflossen ist, bedeutet das für mich nicht zwangsläufig, dass der Film dann die Nationalität des Lands übernimmt, wo das Geld herstammt. Man braucht Geld, um Filme zu machen und ich finde es toll, wenn das die Schweizer Filmförderung ermöglicht, aber mich interessieren Filme, die sich mit sozialen und politischen Realitäten der Schweiz auseinandersetzen. Anders als man glauben könnte, bietet auch die „neutrale, sichere, reiche“ Schweiz viel Material dafür.

CEUX QUI TRAVAILLENT von Antoine Russbach © Be For Films

Um auf Klischees zurückzukehren, kann ich sagen, dass ich merke, dass meine Filmauswahl sehr oft, genau diese auf die eine oder andere Weise zum Thema hat. Die Schweiz ist oberflächlich gesehen vielleicht tatsächlich „reich“, doch bei weitem nicht für alle, was in diesem Jahr ein Film wie DUMMER JUNGE (2. August um 20:30 Uhr) von Lionel Baier zeigt. CEUX QUI TRAVAILLENT (30. Juli  um 21:30 Uhr) von Antoine Russbach beschäftigt sich mit der Arbeitswelt und konterkariert das Bild der Schweizer als „Saubermänner“. Um das Motiv Euthanasie oder selbstbestimmtes Sterben ranken sich sehr viele Mythen. Viele wissen, dass man in der Schweiz auf rechtlicher Ebene eine klare Position einnimmt, doch so einfach, wie sich viele den Prozess vorstellen, ist das nicht. Darum geht es in DAS LEBEN VOR DEM TOD (2. August um 18 Uhr) von Gregor Frei.

Im Übrigen bin ich nicht daran interessiert, möglichst als Erste möglichst aktuelle Titel zu zeigen. Ich möchte jeweils einen Überblick bieten und Schweizer Filmkunst in der zeitlichen Kontinuität aufzeigen. Mir ist zudem wichtig, alle zur Verfügung stehenden Mittel zu kombinieren. Deswegen hat jeder Langfilm einen kurzen Vorfilm und es sind alle Genres und Filmformen vorhanden von Animation, Dokumentarfilm, Experimentalfilm und Spielfilm.

Vielleicht ebenfalls erwähnenswert ist, dass ich eigentlich nie schaue, von wem ein Film genau stammt und nicht künstlich ein Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern herstellen möchte. Doch auch hier hat sich wieder von selbst ein ausgewogenes Programm ergeben.

Im letzten Jahr musste Film:Schweiz ausfallen, wie setzt ihr das Festival in diesem Jahr um?
2020 musste ich das Festival knapp ein paar Wochen vor dem ersten Lockdown absagen. Ich hatte schon alle Plakate mit den Daten gedruckt. Zum Glück war ich mit dem Programmheft im Verzug, weswegen die Produktion davon noch gestoppt worden ist. Es war sehr frustrierend, die Arbeit eines ganzen Jahres bis auf weiteres auf Eis legen zu müssen. Lange habe ich gezögert, die Planung für den Nachholtermin wieder aufzunehmen, aus Furcht, dann wieder absagen zu müssen. Ich habe mich dann aber dafür entschieden, die Filmauswahl von 2020 beizubehalten. Ich habe das Jahr hindurch geschaut, ob es neue, interessante Titel gibt, die reinsollten, aber nichts gefunden, was meinem Geschmack entsprach. Deswegen ist mein Programm immer noch so schlüssig für mich.

Was sind Schwerpunkte und Highlights des diesjährigen Programms?
Das ist schwer für mich, zu sagen. An jedem einzelnen Film und Vorfilm hängt mein Herz. Für jeden einzelnen Titel wünsche ich mir, dass er gesehen wird.

SIAMO ITALIANI von Alexander J. Seiler, June Kovach, Rob Gnant © Dschoint Venture

Es gibt mehrere spannende Beiträge, die sich dem Thema Migration und Integration widmen. Ein Beitrag ist aus dem Jahr 1964 über die italienischen Gastarbeiter. Beachtlich, dass das damals schon ein Thema war! Warum hast du dich für diesen Fokus entschieden?
Es hat sich tatsächlich von selbst ergeben. Die Filme haben mich berührt aus vielen Gründen. SIAMO ITALIANI (1. August um 16 Uhr) von Alex­an­der J. Sei­ler, June Kovach und Rob Gnant aus dem Jahr 1964 ist wirklich beachtlich, denn erst wenige Jahre zuvor, hat die Masseneinwanderung der Italiener in die Schweiz überhaupt begonnen. Mein Vater kam etwa zu der Zeit, genauer 1967, in die Schweiz. Das Thema Einwanderung betrifft mich persönlich auf verschiedenen Ebenen, auch wenn ich mir sehr lange der Tragweite meiner Erfahrung und der meiner Familie gar nicht bewusst war, war ich doch mittendrin und bin es eigentlich in jedem Lebensabschnitt, auch wieder in Deutschland, geblieben. Es fügt sich schön, dass Filme aus drei verschiedenen Jahrzehnten das Thema aufgreifen und im Grunde immer das Gleiche aufzeigen. Die anderen beiden sind PIZZA BETHLEHEM (29. Juli um 18 Uhr) von Bruno Moll und NEULAND (4. August 18 Uhr) von Anna Thommen.

Ein weiterer roter Faden im Programm scheint mir der 100. Geburtstag von Dürrenmatt. Welche Bedeutung hat Dürrenmatt für den schweizerischen Film und umgekehrt?
Dürrenmatt ist eine riesige Quelle an Inspiration für den Film, nicht nur aus der Schweiz. Bisher wurden Filme allerdings vor allem auf der Basis seiner philosophischen Titel, die sich mit Recht, Schuld und Sühne beschäftigen, gezeigt – MIDAS ODER DIE SCHWARZE LEINWAND (1. August 18 Uhr), DER RICHTER UND SEIN HENKER (1. August 21:30 Uhr) oder ES GESCHAH AM HELLICHTEN TAG (4. August 20:30 Uhr) sind nur einige davon. Viele weitere Erzählungen und vor allem seine autobiografischen Stoffe bieten noch mehr interessantes Material. Dürrenmatt hat bei vielen Filmen am Drehbuch mitgearbeitet, manchmal auch eine kleine Rolle übernommen wie in DER RICHTER UND SEIN HENKER.

Gibt es ein Rahmenprogramm bzw. sind Filmemacher*innen anwesend?
Das Rahmenprogramm habe ich für diesen Nachholtermin etwas verkleinert. Geplant war ein Vortrag des Prof. Hansmartin Siegrist, der über die allerersten Filme, die 1896 von den Brüder Lumière produziert, in der Schweiz entstanden sind. Das lag mir sehr am Herzen, aber da noch immer Beschränkungen herrschen, was die Sitzplatzkapazitäten betrifft, wollte ich nicht riskieren, für die Anwesenheit von Herrn Siegrist zu wenige Zuschauer zu haben, auch weil er extra aus Basel angereist wäre. Ich hoffe, ihn im nächsten Jahr einladen zu können. Auf der Ausstellung mit Replika von Gemälden und Grafiken von Dürrenmatt habe ich aber bestanden, da die Ausstellungsobjekte bereits produziert worden sind. Zudem gehören sie zum Fokus auf Dürrenmatt, der trotzdem stattfindet. In diesem Zusammenhang habe ich aber als neuer Punkt des Rahmenprogramms eine Lesung mit einem in Berlin ansässigen jungen und sehr talentierten Theaterschauspieler mit Schweizer Wurzeln neu konzipiert_ Laurenz Wiegand habe ich erst durch das Festival kennengelernt, weil er seit der ersten Ausgabe treuer Gast ist und dann bin ich große Bewunderin dieses äußerst begabten Künstlers geworden.

Anwesend sein wird der Regisseur des Eröffnungsfilms DER BÜEZER (29. Juli 21:30 Uhr), Hans Kaufmann. Sein Film hat mich sehr beeindruckt, wurde aber in der Schweiz nur stiefmütterlich ausgewertet. Hannah Dörr (1. August 21:30 Uhr) hat einen Kurzfilm gemacht, der auf einer Geschichte von Dürrenmatt basiert. Sie wird anwesend sein, wenn MIDAS ODER DIE SCHWARZE LEINWAND als Vorfilm für DER RICHTER UND SEIN HENKER von Maximilian Schell gezeigt wird.

DER BÜEZER von Hans Kaufmann @ Hans Kaufmann

Stellst du Trends und Entwicklungen im schweizerischen Film fest, die du mit dem Festival abbilden möchtest?
Ich merke, dass die Zahl der Co-Produktionen weiter ansteigt. Die Schweiz ist willig, sich mit Film zu schmücken, aber nicht zwangsläufig eigene Autoren zu fördern. Der Fokus bei der Finanzierung inländischer Projekte liegt auf ein paar Leuchtturmproduktionen, die den langersehnten internationalen Durchbruch bringen sollen, aber bisher das Versprechen nicht eingelöst haben. Entstanden sind unter dieser Prämisse jüngst Werke wie ZWINGLI von Stefan Haupt oder WOLKENBRUCHS REISE IN DIE ARME EINER SCHICKSE von Michael Steine. Oder es gibt Filme wie SCHWESTERLEIN, der abgesehen davon, dass die Regisseurinnen Schweizerinnen sind, im Wesentlichen ein deutscher Film ist, mit deutschen Darstellern, fast nur in Deutschland gedreht und der von deutschen Realitäten erzählt.

Parallel dazu habe ich immer wieder kleine Produktionen entdeckt, die mit wenig Budget gemacht worden sind, kaum in der Schweizer Filmförderung beachtet wurden, aber für mich einen großen Mut beweisen, sich mit unspektakulären Themen zu beschäftigen und eine originelle eigenständige Bildsprache aufweisen. Das war im 2019 DENE WOS GUET GEIT von Cyril Schäublin und sind in dieser Ausgabe DER BÜEZER von Hans Kaufmann, DAS HÖLLENTOR VON ZÜRICH von Cyrill Oberholzer, DIE FRUCHTBAREN JAHRE SIND VORBEI (31. Juli 21:30 Uhr) von Natascha Beller und der schon erwähnte CEUX QUI TRAVAILLENT.

Das Interview führte Marie Ketzscher.

Das Film:Schweiz findet vom 29. Juli bis 4. August im Brotfabrik Kino statt.