transmediale 2021-2022: FORENSICKNESS von Chloé Galibert Laîné


transmediale © Luca Giradini

Auch wenn wir um die Macht des Schnappschusses, der Aufnahme wissen, lohnt es, über die Auswahl von Bildern, ihre Verwendung, ihren Kontext und ihre Dekontextualisierung immer wieder einmal bewusst nachzudenken. Das war jüngst in den kühlen Katakomben des Silent Green während der transmediale 2021-2022, genauer: während des dazugehörigen Filmprogrammes remote. response. request. III. (August/September 2021) möglich. Dort war unter anderem Chloé Galibert-Laînés Vierzigminüter FORENSICKNESS zu sehen. FORENSICKNESS ist ein filmischer, essayistisch gehaltener Dialog mit einem weiteren Essayfilm: Chris Kennedys 16mm-Stummfilm WATCHING THE DETECTIVES (2017) über den Anschlag auf den Boston-Marathon 2013, der darlegt, wie eine Gruppe von Chats auf reddit, 4chan usw. versuchte, zeitgleich zu den staatlichen Ermittlungen die Attentäter zu überführen. Racial Profiling, Fake News und vorschnelle Schlussfolgerungen inklusive. Fotos fälschlich identifizierter Personen kursierten so erfolgreich, dass sogar die New York Times sie als glaubwürdig erachtete – und abdruckte. Galibert-Laîné seziert Kennedys Film. Sie drückt die Pausetaste, spult vor, zitiert, spult zurück. Und kontrastiert dabei auch die offiziellen Ermittlungen, die nicht wie die redditor mit einfachsten Bildbearbeitungstools, dafür aber mit Green Screen und 3D-Modellen im Studio durchgeführt und präsentiert wurden  – und dabei ebenso Wahrheit konstruieren bzw. empirische Beweise haptisch und visuell greifbar machen wollen. Also auch Narrative konstruieren. Und vermutlich damit indirekt nebst der Fülle an Krimiserien auch wiederum Blaupausen für die redditors und ihre Argumenationsführung liefern.

Klug schneidet die Regisseurin außerdem Klassiker wie John Carpenters THEY LIVE (1988) dazwischen. Der dystopische Film handelt von einem Mann, der eine Sonnenbrille findet, die ihm offenbart, dass die Welt von Aliens beherrscht wird, die die Menschen mit Massenmedien gleichschalten. Ein Film, der sich – ebenso wie Nachrichtenbilder – auch mit der Zeit verändert: Heute ist er für Galibert-Laîné nicht mehr subversive Entlarvung der kapitalistischen Ausbeutungsgesellschaft, sondern eher ein bevormundender, weißer Blick  – schließlich möchte der Hauptdarsteller seinen Schwarzen Freund die ganze Zeit überzeugen, dass dieser auch „seine“ Brille aufsetzt, also die Welt wie er sieht.

Ihre Überlegungen zum Film führen Galibert-Laîné wieder zu den redditorn zurück: Früher hätten die Intellektuellen das gemeine Publikum ausgelacht, weil es die geheimen Botschaften in den Bildern nicht zu entziffern wusste, heute lacht es über das Publikum, weil es zu viele Botschaften in den Bildern entdeckt.

Es ist eine schöne These, die Galibert-Laîné formuliert – nicht, ohne ihren eigenen filmischen Versuch gleich danach wieder in Frage zu stellen – weil sie darauf verweist, dass alle Autoritätsbehauptungen (und das schließt Kunst mit ein) im hierarchischen Denken verwurzelt sind, und die Wahrheit wie auch das wahre Bild relativ. Die vermeintliche Deutungshoheit einer gebildeten Elite, die sich über krude Vermutungen, die auch Verschwörungstheorien miteinschließt, lustig macht, basiert nicht auf Überlegenheit. Sondern auf dem jeweiligen Standpunkt. Und der Elaboriertheit der Mittel.

Marie Ketzscher