Notizen von der 59. Viennale (21. – 31. Oktober 2021)
(Festival)Ankunft – Niederkunft
Die Viennale begann mit einem Tritt in die Magengrube. Einem gut kalkulierten, wirksamen und sich in die Erinnerung einbrennenden Tritt. Er wurde von Audrey Diwan ausgeteilt, mit dem Eröffnungsfilm L’EVÉNEMENT (Goldener Löwe in Venedig 2021), einem in den 60er Jahren angesiedelten Drama in der französischen Provinz. Anne (Anamaria Vartolomei) ist die Erste, die zum großen Stolz ihrer Familie studiert. Sie brilliert, bekommt vom Professor sogar einen Lehrauftrag in Aussicht gestellt. Gemeinsam mit ihren Freund*innen konzentriert sie sich einerseits auf das Literaturstudium, und testet andererseits die Grenzen aus, heftet sich den Rock ein bisschen kürzer. Andere Mädchen, die das Studium vernachlässigen, um früh zu heiraten, werden von ihnen verächtlich beäugt. Der größte Alptraum: Schwanger werden. Doch dann bekommt Anne ihre Periode plötzlich nicht. Hausfrau werden, Autonomie aufgeben, sich zu Tode schuften, wie die Eltern? Sie muss das Kind loswerden, trotz Abtreibungsverbot oder möglicher Gefängnisstrafe bei gelungenem Abort.
L’EVÉNEMENT basiert auf einem biografischen Bericht von Annie Ernaux, die ja ein bisschen so etwas wie die Koryphäe auf dem Gebiet des Frau-Seins und Werdens im Nachkriegsfrankreich gilt. Streng, körperlich und fast schon naturalistisch inszeniert Diwan den Kampf der jungen Frau, die den Horrortrip einer ungewollten Schwangerschaft in noch gar nicht so verstaubt wirkender Vergangenheit nachfühlen lässt, bis einem manchmal etwas übel wird. Gleichzeitig hält Diwan die Zuschauer*innen auf Abstand, ihre Anne ist kühl und rational. Wut sollen wir bekommen und Mitgefühl haben, aber bemitleiden, Anne als Opfer begreifen – das sollen wir nicht. Auch am nächsten Tag hallt der Eröffnungsfilm (so viel Wut zur Eröffnung ist schon ungewohnt, wenn man zum Beispiel an die Berlinale denkt) nach, er sitzt mit dem Schlafmangel zusammen in den müden Knochen, die nun zum Gartenbau über die Brücke stapfen. Auf dem Weg zu einem Film, der nichts vom weiblichen Körper weiß und den männlichen Körper nur durch den zugefügten oder erlebten Schmerz definiert (THE CARD COUNTER von Paul Schrader) hat die Initiative „Jugend für das Leben“ vor dem pro:woman Abtreibungsambulatorium ein Zelt aufgebaut. Sie wollen dort 40 Tage lang für das Leben und gegen Abtreibung beten. Davor sitzen vier Damen, die ihre Jugend schon etliche Jahre hinter sich haben und es besser wissen könnten (der Schwangerschaftsabbruch wurde in Frankreich wie Österreich 1975 legalisiert). Von einem Filmbesuch könnten sie gut profitieren, damit sie daran erinnert werden, was sie sich da für eine Zeit zurückwünschen.
Von der Unerträglichkeit, ein Mann* zu sein
Um 2020/21 herum ist es wirklich nicht leicht, ein Mensch zu sein. Aber Männer haben es scheinbar besonders schwer, wenn man Paul Schrader und Leos Carax glauben mag. Schrader, der ja ohnehin eher auf männliche Prototypen (DER Gigolo, DER Pfarrer) als auf Charaktere steht, widmet sich also nun DEM Spieler mit THE CARD COUNTER. William Tell (ja, der Protagonist ist wirklich nach dem schweizerischen Freiheitskämpfer und Tyrannenmörder benannt)(schön verbissen: Oscar Isaac) ist ein Kartenspieler, der durch die tägliche, kleine Beiträge erzielende Routine die eigenen Dämonen in Schach hält, die er sich als ehemaliger Soldat in Abu Ghraib und der dafür verbüßten zehnjährigen Freiheitsstrafe eingebrockt hat. Trinken hilft natürlich auch. Doch sein streng getakteter Alltag kommt durcheinander, als er Cirk (Tye Sheridan) kennenlernt, der durch den Selbstmord des Vaters, der ebenfalls in Abu Ghraib gewütet hat, traumatisiert ist. Cirk will sich am ehemaligen Oberbefehlshaber der Truppe (verkörpert von Willem Dafoe) rächen, der natürlich nie einsaß und als Consultant fröhlich Vorträge haltend durch die Gegend fährt. William nimmt ihn unter die Fittiche, will ihm das Geld für eine andere Zukunft erspielen; die schöne La Linda (ja, wirklich) (Tiffany Haddish) hatte ihn ohnehin schon als Spieleragentin umworben und lächelt immer so verführerisch. Was kann schief gehen? Natürlich alles, denn der Film folgt einem Rollen – und Weltbild, das von Hobbes geprägt und absolut deterministisch ist: Man ist entweder Opfer oder Täter und wenn man einmal gemordet hat, wird man es nun mal wieder tun; Katharsis ist nach dieser Logik gewaltfrei nicht möglich. Für Schraders einfallslose und zum Teil hölzerne Inszenierung, die trivialen Dialoge und die Frau, die zu einem hält, no matter what, hätte es Abu Ghraib eigentlich gar nicht gebraucht; der Verweis ist unnötig bis trivialisierend. Denn THE CARD COUNTER ist im Grunde zeitlos, zeitlos überflüssig.
Mit starken, ebenso fragwürdigen Referenzen an das Hier und Jetzt arbeitet auch Leos Carax mit seinem Musical ANNETTE (Regiepreis in Cannes 2021) über den cholerisch-ekligen Comedian Henry (Adam Driver), der sich in eine sphärisch-entrückte Sopranistin Ann (Marion Cotillard) verliebt und mit ihr das Baby Annette bekommt, eine Puppe, die aber von allen als ihr leibliches Kind akzeptiert wird. Baby Annette wird nach dem (Unfall)tod/Mord von/an Ann zum Stadien füllenden Superstar, unnachgiebig gepusht von einem immer weiter die Selbstkontrolle verlierenden Vater. Augenscheinlich stark beeinflusst von den #metoo-Skandalen um Louis C.K. (Ann albträumt, dass Henry wegen zahlreicher entsprechender Anschuldigungen überführt wird) und den humorbefreiten Schnappatmungs-Schlagzeilen der Promipresse erzählt ANNETTE dabei vor allem davon, dass ein Mann nicht mit der Karriere seiner eigenen Frau klar kommt und sich mit seinem daraus resultierenden (künstlerischen) Selbsthass abschottet. Erst als er endgültig am Ende ist und um Vergebung bitten kann, entsteht ein echtes Verhältnis zu seiner Tochter. Es ist ein komischer Carax-Film. Vergebens sucht man verspielt-magische Elemente, zum Beispiel im zeitlos surrealistischen HOLY MOTORS und eine Hommage an die fantastische Welt, die eskapistische Züge trägt. Die satirische Überzeichnung der Promiwelt eignet sich eher zum Gähnen und die Wendigkeit, mit der sich das schmachtende Publikum in zerfetzende, mediengeile Aasgeier verwandelt, hat man schon hundertmal gesehen. Lediglich die Puppe ist ein netter Gimmick, die für die wenigen Schmunzelmomente sorgt. Selbst mit dem Wissen, dass sich Carax’ Frau mit 44 Jahren das Leben nahm und er den Film seiner Tochter gewidmet hat (man sieht die beiden zu Anfang im Tonstudio) lässt die zweieinhalbstündige eintönige, sich in den Ohrwurmgängen festsetzende Singerei und den Fokus auf den unsympathischen, cholerischen Mann schlecht ertragen. Ohne diese Backstory müsste man sie direkt larmoyanten Narzissmus nennen.
*(Die Nabelschau bei der Viennale blieb allerdings nicht Männerdomäne. Der ebenfalls stark biografisch inspirierte BERGMAN ISLAND von Mia Hansen-Løve konnte durchaus mithalten in Sachen Egotrip und Künstlerinnen-Selbstmitleid. Hier bekam man dann noch sündhaft teuren Strickpulli-Minimalismus und Befindlichkeiten der Upper Class ganz umsonst mit dazu. Man hat es so schwer, wenn man Filme über andere Menschen ohne Existenzsorgen macht und der eigene Mann auch. Stell dir bloß dieses kaum erträgliche Schicksal vor, und dann noch auf einer so schönen Insel wie Fårö.)
Ich bin mein eigener Dokumentarfilm
Auch die dokumentarischen Stoffe waren oft Erkundungen eigener künstlerischer Positionen. So zum Beispiel STORIES FROM THE SEA, dem ersten Langfilm von Jola Wieczorek, die nach ihren ungemein beeindruckenden Filmen O QUE RESTA und LIST DO POLSKI nun die Mittelmeersehnsüchte dreier unterschiedlicher Personen(gruppen) in den Blick nimmt: Jessica ist Auszubildende auf einem großen Frachterschiff, die frisch verwitwete Amparo fährt gern mit dem Kreuzfahrtschiff und eine Gruppe von jungen Menschen aus der ganzen Welt macht zehn Tage lang einen Selbstfindungssegeltörn, der von politischen Gesprächen geprägt ist bzw. fast ausschließlich aus ihnen besteht. Serafin Spitzers wunderbare Kameraarbeit und Wieczoreks sichtbar sensibler Umgang mit ihren Protagonist*innen zeichnen STORIES FROM THE SEA aus – aber leider auch die Parteilichkeit der Regisseurin, die trotz Fingerspitzengefühl das Luxusleben an Bord des Kreuzfahrtschiffes karikiert und die aktivistische Schiffsreise im Gegenzug verklärt.
Die Neigung auch des Dokumentarfilms, die Protagonist*innen zu Vehikeln eigener Ideen zu machen beziehungsweise vielmehr die Verweigerung des Filmes, der zu werden, der er werden soll – das sind zwei Themen, die Aleksey Lapin in seinem ebenfalls ersten Langfilm, KRAI, beschäftigen. Eigentlich hat er (angeblich) einen historischen Film mit den Anwohner*innen seines ukrainischen Heimatortes drehen wollen, dann wird das Casting zum Thema und schließlich die Anwohner*innen selbst, die sich mal weniger, mal stärker vor der Kamera inszenieren, Konflikte erfinden, Gedichte deklamieren. Die hybride, augenzwinkernde Form des Filmes ist durchaus überzeugend, und führt ständig vor Augen, welche bizarren Ansprüche es immer noch an eine „echte“, „authentische“ dokumentarische Arbeit gibt. Zwei Stunden sind aber auch für ein interessantes Filmexperiment sehr ausführlich, auch weil es genügend Szenen gibt, die sich stark ähneln. Mit dreieinhalb Stunden nicht eine Minute zu lang ist hingegen HERR BACHMANN UND SEINE KLASSE, den die Autorin dieser Zeilen frevelhaft in Deutschland verpasst hat. Maria Speths empathische Dokumentation eines ganzen Schuljahres ist packend und anrührend, ganz egal, ob man der Überzeugung ist, dass es sich um ein singuläres, nicht vergleichbares Schüler- und Lehrerverhältnis handelt oder ein idealtypisches Vorbild für schulische Strukturen.
Guck mal, es gibt eine Welt, die nicht ich selbst bin
Schönster Lichtblick des Festivalbesuchs war MEDUSA von Anita Rocha da Silveira. Er erzählt von einer evangelikalen Mädchengruppe, die gemeinsam christliche Poplieder singen, eine prollige Bürgerwehrtruppe anhimmeln – und nachts Gleichaltrigen auflauern, denen sie ein lasterhaftes Leben unterstellen. Unter Fußtritten sollen die Anderen ihre Sünden gestehen und Besserung versprechen. Mari (Mari Oliveira) ist eine der Anführerinnen. Doch bei einer nächtlichen Attacke wird sie selbst im Gesicht verletzt und bekommt zu spüren, wie oberflächlich ihr Umfeld eigentlich ist. Um die Gunst der Gruppe zurückzugewinnen, möchte sie das prominenteste Opfer evangelikalen Terrors ausfindig machen: Den Popstar Melissa, die von einer gläubigen „Vorreiterin“ mit weißer Maske einst mit Benzin übergossen und angezündet wurde, und nun von der Erdfläche verschluckt ist. Sie heuert in einer Klinik an, in der sie Melissa vermutet. Durch ihre Erfahrungen in der Klinik und den Pfleger (Felipe Frazão), zu dem sie sich hingezogen fühlt, beginnt sie ihr Umfeld zu hinterfragen. Rocha de Silveiras Fantasy-Film mag einen fiktionalen Plot haben, die Wurzeln hat der Film klar im heutigen Brasilien: So nimmt der Film Bezug auf die evangelikale Rechte, die Jair Bolsonaro groß gemacht hat. Und die durch Influencer*innen und schöne Gesichter mainstreamtauglich geworden ist; weiße Gesichter natürlich. Maris Geschichte erzählt da Silveira in diesem Kontext nicht nur als sexuelles Erwachen, sondern vor allem als Lieben-Lernen des eigenen, dunklen Körpers, den sie einst mit Glätteisen und hautweißender Créme „passend“ machen wollte. Und es wirkt auch nicht wie ein Zufall, dass die Welt, die sie bei der Suche nach Melissa in der Klinik entdeckt, ein wilder Urwald ist, den Bolsonaro jährlich immer weiter dezimiert. Es gibt zwar wenig Überraschungen in Anita Rocha da Silveiras Film, aber dafür ein fulminantes Ensemble (allen voran Mari Oliveira als Mari), Augenzwinkern und Weltentdeckungen jenseits des Befindlichkeitenkarussells.
Marie Ketzscher