610 Berlin – Warszawa: Polen unter der Lupe
Das Verhältnis zwischen den beiden Nachbarn links und rechts der Oder, es ist angespannt, das zeigen im Großen die offenkundigen Meinungsunterschiede auf europapolitischer Ebene und im Kleinen die Streitigkeiten und gegenseitigen Schuldzuweisungen rund um das Fischsterben im Grenzfluss im letzten Dürresommer. Ein viel versprechendes Herangehen, um Zwist zu lösen, ist es, den anderen besser zu verstehen. Genau da setzt das Filmfestival 610 Berlin – Warszawa mit seinen beiden Programmen an, die zeitgleich in den beiden Partnerstädten zu sehen sind. 610 Berlin – Warszawa, das von 23. bis 30. November 2022 stattfindet, zeigt in Warschau in international gefeierte Werke deutscher Regisseur*innen. Zur Eröffnung Sophie Linnenbaums THE ORDINARIES, NICO (R: Eline Gehring), der achtung berlin eröffnete oder NIEMAND IST BEI DEN KÄLBERN (R: Sabrina Sarabi). In Berlin präsentiert das Filmfestival Dokumentar-, Spiel- und Kurzfilme aus und über Polen. Diese offenbaren allesamt ungeschminkt den polnischen Alltag und laden uns zur Kinoreise durch eine lebendige, aber auch gespaltene Nation ein.
Kornel Miglus, Organisator und Künstlerischer Leiter von 610 Berlin – Warszawa (und auch seit vielen Jahren Kurator von filmPolska), beschreibt sein Programm wie folgt: „Wo Licht ist, ist auch Schatten, aber wo es Schatten gibt, gibt es auch Licht! Wir geben keine simple Antwort auf die Frage, was Polen ist. Stattdessen zeigen wir ein Land in (s)einer kulturellen Dynamik und im globalen Gärungsprozess.“
Ein Statement setzt 610 Berlin – Warszawa durch sein Eröffnungsprogramm am 23. November (19.30 Uhr) im Club der polnischen Versager in Berlin-Mitte: Der neue polnische Feminismus nimmt nicht nur in Straßenprotesten von Frauen Gestalt an, sondern auch in den Werken von Studentinnen der Filmhochschule Łódź, die 610 Berlin – Warszawa im Kurzfilmprogramm „Women Matters“ präsentiert. Die Entdeckung der politische Weiblichkeit als Auseinandersetzung mit der Gesellschaft, als Erfahrung von Schönheit und Schmerz und als unabhängiges Streben nach Selbstverständnis – das sind nur einige Motive dieser kurzen Geschichten, die gemeinsam die Frage stellen: Wer bin ich? Eine Begegnung mit einer weiblichen Welt, die voller Zweifel, Wut und Hoffnung ist. Zur Eröffnung hat sich Yelyzaveta Pysmak angekündigt, die ukrainisch-polnische Regisseurin überzeugte mit ihrem Kurzfilm MY FAT ARSE AND I zuletzt in Cannes.
Gerade das junge „Frauenkino“ Polens setzt sich kritisch mit dem konservativen Diskurs des Heimatlandes auseinander und formuliert sein Klagen über den Backdrop in leisen und lauten Tönen. Passenderweise trägt die zweite Kurzfilmauswahl des Filmfestivals den Titel WOMEN VOICES, es thematisiert unterschiedliche Facetten des neuen polnischen Feminismus. Bei 610 Berlin – Warszawa ist unter anderem auch der Klassiker PUSSY von Renata Gasiorowska (auf youtube) zu sehen.
„Die polnischen Filme, die wir in Berlin zeigen, erzählen von der Spaltung im heutigen Polen, von der Lage junger Menschen, aber auch von historischen Verwicklungen, vom Phänomen der Religiosität und von der Entwicklung eines modernen weiblichen Bewusstseins, von Ängsten der Jugend und von der polnischen Kultur im globalen Kontext“, beschreibt Kornel Miglus, Organisator und Künstlerischer Leiter von 610 Berlin – Warszawa sein Programm. „Keine Gesellschaft ist frei von inneren Spannungen, aber schwierige Themen aufzugreifen ist Merkmal einer offenen Gesellschaft, die keine Furcht vor dem Dialog mit sich selbst hat.“
Für Werke, die Gesellschaften wie durch eine Lupe betrachten, steht Regisseur Wojciech Smarzowski seit er 2004 mit EINE HOCHZEIT UND ANDERE KURIOSITÄTEN (OT: WESELE) seinen Durchbruch schaffte. Seitdem gilt Smarzowski als wacher Geist, kluger Beobachter und scharfzüngiger Kritiker sowohl der polnischen als auch der europäischen Kultur. Das kommt offensichtlich nicht überall gut an. Bei 610 Berlin – Warszawa stellt er nun 17 Jahre später den gleichnamigem DIE HOCHZEIT (OT: WESELE; 2021) vor, der ohne jegliche staatlichen Mittel entstand. Die Kulturministerin und ihr Institut waren nicht bereit den Film zu finanzieren. Legt er mit seiner Perspektive auf die Globalisierung vielleicht seinen Finger zu tief in Wunde der polnischen Kultur? Smarzowskis DIE HOCHZEIT betrachten viele als einen der am stärksten dystopischen und kontroversesten Filme des aktuellen polnischen Kinos. Er zeichnet darin ein beängstigendes Bild vom Zerfall einer Familie und von den Grenzen der Liebe, vom Ende der Menschlichkeit und dem globalen Wahnsinn in provinzieller Wirklichkeit. Er erzählt bravourös und atemlos einen Tag des polnischen Universums und imponiert mit der Fülle an gesellschaftlich-historischen Motiven.
Ein ähnliches Thema beschreibt unser Filmtipp…
STILLES LAND (OT: CICHA ZIEMIA)
Darum geht es:
STILLES LAND begleitet das Paar Anna und Adam auf deren Italien-Urlaub. Noch jung, attraktiv, gut in Form und wohlhabend, das erkennt das Publikum am Habitus der beiden sofort, wollen die beiden ihre sicher wohlverdiente Auszeit in dem Ferienhaus im Süden vor malerischer Kulisse genießen. Dass ausgerechnet der versprochene Pool ohne Wasser ist, passt da so gar nicht ins Bild. Nicht einmal das Meer in Sichtweite kann den Missstand gut machen. Nach geschäftsmäßiger Diskussion mit dem Vermieter, verspricht der Besserung und schon bald macht sich ein junger Mann an die etwas zu geräuschvolle Arbeit. Als der plötzlich Tod in eben jenem Pool treibt, nimmt das Drama seinen Lauf…
Was du zum Film wissen musst:
Agnieszka Woszczyńskas Debütfilm, der beim Crossing Europe Filmfestival den Hauptpreis gewinnen konnte, zeigt eine Welt, in der sich die „da oben“ von denen „da unten“ immer weiter entfernen. Sie leben zwar faktischen auf einem Planeten, aber doch in unterschiedlichen Welten. Wenn alles zur Kulisse verkommt, braucht es eine Festung Europa, um die Glücklichen vor dem Leid der anderen abzuschotten. Was ein Leben wert ist, entscheidet dann auch die Herkunft. Ein Drama der leisen Töne, nachdem man Schreien möchte.
Termine bei 610 Berlin – Warszawa:
Sonntag, 27. Nov. um 20 Uhr im FSK – KINO AM ORANIENPLATZ als (Online-)Gast dabei ist Regisseurin Agnieszka Woszczyńska
Mittwoch, 30. Nov. um 20 Uhr im KLICK-KINO BERLIN als (Online-)Gast dabei ist Regisseurin Agnieszka Woszczyńska
Denis Demmerle (Kenntlichmachung: Autor Denis Demmerle unterstützt das Filmfestival 610 Berlin – Warszawa in der Event-Kommunikation)
610 Berlin – Warszawa findet von 23. bis 30. November 2022 in Berlin und Warschau statt. Berliner Spielstätten sind das fsk Kino am Oranienplatz in Kreuzberg, das KLICK in Charlottenburg sowie in Mitte das Kino Babylon und der Club der polnischen Versager. Das komplette Programm und alle Termine auf:
https://www.610-filmfestival.pl/de/filmfestspiele/