Griechische Sehnsuchtsorte


Das Abtauchen in eine andere Welt: Festivalbericht vom 9. Greek Film Festival.

In der Filmproduktion beweisen die Griechen ihr Können, indem sie rauschendes Meer, zirpende Grillen und sehnsuchtsvolle Orte einfangen um tiefgründige Erlebnisse, traurige Wahrheiten und intime Momente zu vermitteln. Das diesjährige griechische Filmfestival in Berlin präsentierte in seinem 2024er Jahrgang genau diese Elemente.

Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft
„Liebe. Liebe. Liebe“, das sind die Worte, die Tochter Sophia (Sofia Kokkali) zu ihrer Mutter Sophia (Vicky Kaya) sagt, während sie sie sanft berührt.
Der Zuschauer entflieht in Alexander Voulgaris POLYDROSO in eine Welt, in der die innige Mutter-Tochter-Beziehung der beiden Sophias im Mittelpunkt steht. Die Tochter kehrt in ihren verhassten Heimatort Polydroso zurück, um ihrer Mutter bei einer schwierigen Operation beizustehen.
POLYDROSO zeichnet Bilder von Mutter und Tochter, wie sie gemeinsam Birnen essen, zusammen in einem Supermarkt tanzen, in der Küche kochen oder nebeneinander auf der Couch sitzen. Diese Szenen erwecken ein Gefühl von Freiheit und Leichtigkeit, als befänden sich beide in einer Traumwelt und nehmen das Publikum mit in ihr Reich. Bunte Blumenfelder schmücken die scheinbare Idylle weiter aus. Sinnhaftigkeit verabschiedet sich von den Dialogen und Handlungen der Figuren. Die tiefe Liebe zwischen Mutter und Tochter durchdringt das Familiendrama. Denn gleichzeitig kämpfen beide mit sich und ihren eigenen Problemen. Der Ehemann der Mutter Sophia ist verstorben, während die Tochter mit dem Verlust einer Freundin umgehen muss. Melancholie und Traurigkeit verstärken sich, aber die Charaktere lernen loszulassen. POLYDROSO erschafft ein wunderbares Märchen, das sich von den Regeln der Realität trennt und starke Emotionen wie Trauer ebenso wie eine tiefe Liebe einfängt.

Eine ähnliche Verbundenheit demonstrieren die zwei Animateurinnen aus dem Gewinnerfilm ANIMAL im Wettbewerb „Emerging Greeks Competition“ von Sofia Exarchou. Im Gegensatz zu POLYDROSO stagnieren die beiden Protagonistinnen mit ihren Problemen in der Gegenwart.
Kalia (Dimitra Vlagopoulou) arbeitet schon sehr lange als Animateurin. Die erst 17-jährige Eva (Flomaria Papadaki) lernt die neue Kollegin kennen und findet Parallelen, die die beiden Frauen verbinden.
Die Gruppe aus Animateuren führt ein einfaches, aber scheinbar ausgelassenes Leben. Sie bespaßen die Älteren beim Bingo in einem Gemeinschaftsraum, unterhalten unterschiedliche Hotelgäste in einer Hotelanlage und tanzen vor Besuchern in einem Club. Sie verbreiten gute Laune und verdienen damit ihren Lebensunterhalt. Das Trinken von Alkohol auf gemeinsamen Feiern wird zu ihrem täglichen Ritual. Der Sommer, das Meer und nächtliche Mopedtrips suggerieren ein Gefühl von Freiheit und Geselligkeit. Die ausgelassene Stimmung kippt, als sich Kalia während einer Schaumparty schwer am Bein verletzt. Sie entscheidet sich, die Wunde nicht behandeln zu lassen und tackert sie stattdessen trotz unerträglicher Schmerz selbst. Die Show muss nun mal weitergehen. Von den Frauen und Männern wird erwartet, dass sie in ihren Rollen funktionieren und mit ihren Reizen spielen, komme was wolle. Kalia fällt in ein immer tieferes Loch. Ihre eben noch fröhliche Gestalt verdunkelt sich in eine traurige Schattenfigur, die mit Alkohol und losen Männerbekanntschaften versucht, ihre Sorgen wenigstens kurz zu verdrängen. Auch Eva kämpft mit sich, insbesondere wenn es darum geht, sich frei zu entfalten. Ihre Unsicherheit wird deutlich sichtbar, als sie an ihrem achtzehnten Geburtstag ihr erstes Mal mit einem betrunkenen Mann hat. Einzig in der aufkeimenden Freundschaft mit Kalia findet sie Halt.
ANIMAL enthüllt unzensiert nackte Körper und ist nah an der Weiblichkeit der Figuren. Die Intensität und das Leid der Frauen sind sehr beeindruckend dargestellt. Ein starkes Thema mit noch viel stärkeren Schauspielerinnen.

Nähe ist in EMBRYO LARVA BUTTERFLY von Kyros Papavassiliouo nicht mehr vorhanden. Stattdessen spielt Zeit eine zentrale Rolle.
Die physikalischen Gesetze der Zeit existieren nicht mehr. Innerhalb eines Zeitrahmens von neun Tagen werden verschiedene Jahrzehnte in unterschiedlicher Reihenfolge gezeigt, in der die Geschichte spielt. EMBRYO LARVA BUTTERFLY weist keine Kontinuität auf, die bekannte Narration wird radikal unterbrochen. Die Figuren leben in einer Welt, in der sie ihre Handlungen bereits kennen und in diese eingreifen können. Sie wirken dabei entrückt und gefühlskalt wie Puppen, da sie ihre Zukunft vorhersehen können. Die Zeitreise wird nicht durch die Transformation von Gegenständen oder durch die Veränderung Stadt und Natur wahrnehmbar, sondern durch den Alterungsprozess der Menschen.
In diesem komplizierten Kosmos leben Penelope (Maria Apostolakea) und Isidoros (Hristos Sougaris). Sie führen eine Beziehung, die immer wieder auf die Probe gestellt wird. Penelope ist schwanger, jedoch plant sie, das Kind zur Adoption freizugeben. Die Emotionen des Paares drücken sich nicht körperlich aus, sondern durch verbale Interaktion. Isidoros fragt die Gefühle von Penelope ab, wie beispielsweise Angst, Traurigkeit oder Liebe. Doch Penelope antwortet stets mit einer Zeitangabe, die erklärt, ob das Gefühl vergangen ist, in der Gegenwart oder in der Zukunft liegt. Berührungen zwischen dem Paar sind eine Seltenheit. In einer Szene, in der sie Geschlechtsverkehr haben, überlappen sich ihre Körper, ohne sich zu berühren, beiden empfinden für sich individuell Lust. EMBRYO LARVA BUTTERFLY behandelt das Thema des Alterns und des inneren Kindes auf packende Weise. Griechenland wird zu einem Zeitportal, in dem sich Menschen nicht nur zwischen den Orten bewegen können.

Ein Musikinstrument mit Superkräften
In seiner Sektion „Bloody Screen“ stellt das 9. Griechische Filmfestival zwei blutige Horrorfilme vor, darunter MINORE von Konstantinos Koutsoliotas.
Auf einer griechischen Insel geschehen merkwürdige Dinge. So erzählt eine Oma einem Psychologen, der Katzen auf seinen Block malt, von ihren seltsamen Träumen, in denen sie Menschen den Kopf abhackt. Plötzlich holt sie einen alten Kopf aus ihrer Tasche. Nebenbei sucht und findet der attraktive William (Davide Tucci) seinen Vater. Dieser wird aus dem Nichts angefahren, verliert seine Gedärme. Überleben wird er trotzdem. Aufkommender Nebel, ein im Meer auftauchendes Seeungeheuer… Gefahr bahnt sich an. Und schließlich offenbart sich ein Monster mit langem Tentakel in einer Taverne. Die Rettung der Dorfbewohner ist überraschenderweise eine Bouzouki.
Vor allem viel Blut, Leichen, aber auch perfekte Männerkörper dominieren in MINORE. Verschiedene Stereotype werden aufgegriffen, die in dem Genre nichts Neues mehr sind. Aber in Kombination mit der Kulisse Griechenlands wirkt die trashige Machart sehr charmant. Die Erzählweise ist einfach und nicht ernst zu nehmen, aber genau das ist die Intention des Films.

Das queere Paradies
Die Dokumentation LESVIA verwendet gängige Stilmittel wie Archivaufnahmen, einschließlich alter Fotos, Interviews sowie den Voice-Over-Kommentar der Regisseurin Tzeli Hadjidimitriou. Zusätzlich integriert diese ihre eigenen Tagebucheinträge in den Film, die mit Videoausschnitten eingeblendet werden.
In dem Herzensprojekt spricht Hadjidimitriou über ihre persönliche Geschichte als lesbische Frau und über ihren Zwiespalt als Dorfbewohnerin und Homosexuelle.

LESVIA spielt im Dorf Eressos auf der Insel Lesbos, der Geburtsstätte der griechischen Dichterin Sappho. Seit Ende der 1970er Jahre treffen sich dort lesbische Frauen aus aller Welt, um einen geschützten Raum für ihre Intimität zu finden und ihre Lust frei auszuleben. Die fast lyrischen Szenen von wunderschönen Stränden, Fotos von nackten Frauen am Strand und im Wasser schwimmend kreieren einen Ort der Freiheit. Viele Partys wurden an diesem Ort gefeiert, die Frauen gingen offen miteinander um und trugen exklusive Kleidung. Das Dorf wurde von Frauen überrannt, die in ihrer homogenen Gemeinschaft einen Kontrast zum heterogenen Dorfleben bildeten. In den Interviews mit den Einheimischen wird deutlich, dass die das Leben der lesbische Frauen zwar tolerierten, aber trotzdem Abstand von der Homosexualität suchten. Genau hier liegt das Problem: Die Frauen wurden geduldet und nicht anerkannt oder wie Hadjidimitriou es beim Q&A fomulierte: „You were not wanted.“
Zum Schluss ihrer Dokumentation beschreibt die Regisseurin aus dem Off die heutige Entwicklung der lesbischen Community. Die Homosexuellen finden in der heutigen westlichen Welt mehr Akzeptanz, weshalb Erossos nicht mehr als Safe Space besucht wird. Viele Geschäfte und Hotels mussten aufgrund der fehlenden Besucherinnen schließen. Plötzlich zeigt die Dokumentation Schneeflocken und Nebelschwaden am Strand, im Dorf und in der Landschaft. Ein sehr ungewöhnliches, aber auch schönes Bild einer griechischen Insel. Es veranschaulicht die Endlichkeit der Dinge, aber auch die Befreiung der lesbischen Community.

Im Festival-Abschlussfilm THE SUMMER OF CARMEN von Zacharias Mavroeidis treffen sich die beiden besten Freunde, Demosthenes (Yorgos Tsiantoulas) und Nikitas (Andreas Labropoulos), an einem FKK-Felsenstrand für Homosexuelle in der Nähe von Athen. Dort scheint die Sonne auf ihre nackten Körper, während das klare, blaue Meer direkt vor ihnen liegt. Sie planen ein Drehbuch und diskutieren gemeinsam die einzelnen Szenen. Ein Film im Film beginnt, der ihre Ideen in Akten visualisiert.
Der Protagonist Demosthenes hat sich von seinem festen Freund Panos (Nikolaos Mihas) getrennt, sein bester Freund Nikitas steht ihm bei. Demosthenes muss jedoch auf den Hund Carmen, das Haustier seines Ex-Freundes, aufpassen. Was ihn weiter mit seiner vergangenen Liebe verbindet und so hindert über die Beziehung hinwegzukommen.
Der Witz und die Nahbarkeit machen THE SUMMER OF CARMEN aus. Sein Star ist die Hauptfigur Demosthenes. Der gerät immer wieder in ungeschickte Situationen. Sei es, wenn seine Mutter dem Hund etwas zu Essen gibt, obwohl er das nicht möchte, eine Schublade in der Wohnung von Panos nicht schließt, nachdem Demosthenes sie durchsucht hat, er in seinem Büro Videos schaut, anstatt zu arbeiten, oder er seinen nackten Hintern direkt vor die Kamera hält. Die Sonne und der Felsenstrand konstruieren einen Sehnsuchtsort am Rande der griechischen Hauptstadt.

Das 9. Griechische Filmfestival überzeugte mit einem vielseitigen Programm von 32 Filmen und bewies großen Mut in seiner Filmauswahl. Viele starke und ungewöhnliche Filme schafften es auf die Kinoleinwand. Der Kinogänger wurde von den Narrationen überrascht und in andere Welten eingesogen, umgeben von Liebe, Zusammenhalt und Magie.
Der Zuschauer verliert sich für eine kurze Zeit auf den griechischen Inseln und in den Städten. Fernweh packt einen ebenso wie besondere Seherlebnisse, weshalb sich der Besuch des Filmfestivals absolut gelohnt hat.

Larissa Reznicek