Ein Hoch auf innovative Festivalformate
Kuration is key, Kuration ist die Hauptingredienz. Das mag selbstverständlich klingen, aber es lohnt angesichts der vielen von Förderungskürzungen betroffenen Kultureinrichtungen noch einmal, sich dieser eigentlichen Selbstverständlichkeit zu vergewissern – und ja: sie auch hochzuhalten. Weil es vielleicht bald weniger kuratierende Menschen geben wird, auf jeden Fall schlechter bezahlte, wenn Festivals gezwungen sind, ihr Programm einzudampfen und ihre Personalschlüssel runterzufahren. Übrigbleiben werden dann vielleicht noch die Nationalen und Internationalen Wettbewerbe als Herzstücke der Festivals, die immer nächstmöglich an die Gegenwart heranrücken. Das ist wichtig, ohne Frage. Aber der Verlust der Rahmenprogramme, Hommagen und Retrospektiven, oft mit thematisch kuratierten Filmreihen, wäre dennoch ein grandioser. Die Bewahrung von Filmerbe, der Perspektivwechsel, die Option der (Neu)Kontextualisierung – alle diese Dinge können kuratierte Programme leisten. Wie gut sich das anfühlen kann, solchen Events beizuwohnen, das lässt sich in der Folge vielleicht ein bisschen erlesen.
Kurzfilm Festival Hamburg
40 ist ein komischer Geburtstag. Während die 30 ja ein bodenständiges Erwachsenwerden zu suggerieren scheint, haftet der 40 schon durchaus die Wehmut des voranschreitenden Lebens an. Die Squads gehen halt schon auf die Knie, man merkt, was im Leben vielleicht vorbei ist oder nicht mehr möglich, Stichwort Kinderkriegen, Wohnung-Kaufen, volles Haar, oder man ist voll drin im Hausbauprojekt und dafür naht die Midlife-Crisis.
Das Kurzfilm Festival Hamburg, das vom 4. bis 9. Juni 2024 über die Bühne ging, machte die Ambivalenzen der 40 im Rahmen eines Best-Of zum Thema, indem verschiedene Festivalleiter*innen unterschiedlicher Jahrzehnte ihre Lieblinge zeigten. Der stärkste Film war gleich der erste: Joke Liberges rhythmisch inszenierter MEANDER (2015), der einst beim Mo&Friese lief. Eine Gruppe Jugendlicher geht auf Badeausflug mit der ganzen Ernsthaftigkeit und dann wieder sofortigen Albernheit dieser Lebenszeit. Noch finden keine Annäherungen statt, aber die Fragen des Dazugehörens bitzeln schon mit der Sonne um die Wette. Auch schön: Laure Prouvosts WANTEE, ein experimentell-essayistisches Eintauchen in ein fiktives Familienvermächtnis/Trauma um einen ebenso imaginierten Großvater und DADA-Künstler, in dem mit schnellen und assoziativen Schnitten schöne Gedankenwulste evoziert werden: Was hat es mit den Gegenständen, Skulpturen, Teetassen, dem Fluss unter dem Haus auf sich, die uns die Protagonistin mit so einladender Geste präsentiert? Ein herrliches, versponnenes filmisches Sammelsurium. Wie immer bei so unterschiedlichen „Lieblingen“ blieb Vieles oft subjektiv und Geschmackssache, aber immerhin: Das ja oft in Rückblicken anzufindende an der Nostalgie kratzende Sehnen nach dem Vergangenen war kein Thema.
Am schönsten gerieten in Hamburg einmal mehr die Institution „Der Dreifache Axel“, aber auch eine kuratierte Reihe zu Ehren der Filmemacherin Birgit Hein. Der Dreifache Axel ist eh eines bekanntesten Aushängeschilder des Festivals: Jedes Jahr können Hinz und Kunz ihre Filme zu einem vorab festgelegten Thema – 2024: Salz – einreichen; und die Filme dürfen nicht länger als drei Minuten lang sein. Es entsteht bei einem solchen Wettbewerb natürlich alles. Vom Animationsfilm über die Horrorsatire bis hin zu Komödie und Musikfilmchen. Es überzeugten hier vor allem die Jahrgänge der angehenden und schon mitten im Saft stehenden Boomer*innen. Stefan Möckel dichtete mit seinem Salzmedley totgehörte Evergreens gesalzen um, und das in erfrischender DIY-Manier, als hätte es Alexander Marcus nie gegeben. Ebenso schön: Die Besitzer*innen des Lichtmess-Kinos (ein beliebter Festivalstandort), Dorit Kiesewetter und Carsten Knopp, mit GROTTENSCHLICHT, ihrem Besuch einer Salzgrotte, und der Verhohnepipelung der Achtsamkeits-Entspannungskultur. Am schönsten geriet jedoch Olaf Helds SPÄTSOMMER 91: Statt der Nostalgie des Fotoalben-Wendens zu verfallen, verpasst Olaf Held altem gefundenen Filmmaterial ein neue, natürlich salzgebundene Geschichte. Etwas albern, charmant und absolut rührend. Das Publikum – das aus vielen Filmemacher*innen und Freund*innen bestand und jeden Film feierte – wählte dann auch Helds Film als Gewinnerfilm aus.
Ich liebe ja Hommagen, vor allem bei Animationsfilmfestivals. Aber es war herrlich erfrischend und nachhallend, in Hamburg kein Best-Of der Werke der 2023 verstorbenenen Birgit Hein zu sehen, sondern eine Ehrerbietung an ihre Rolle als Mentorin, Lehrerin und Freundin zu erleben: In „ARCHIV 2: Bilder der Gewalt, Gewalt der Bilder“ wurden also Filme ihrer Student*innen gezeigt. Haltungsfilme, allesamt. Die alle den Anspruch hatten, diese Haltung nicht durch die Form zu verdecken, etwas bluten zu lassen. Es waren herrlich stachelige Experimentalwutdrehungen wie Caspar Strackes KOPF-MOTOR-KOPF von 1989 dabei, oder auch der sehr puristische MONIKA HAUSER – FRAUENÄRZTIN IN ZENICA UND KÖLN von Katja Baumgarten. Rein zufällig war die Regisseurin an dem Tag anwesend, als die Ärztin und Entwicklungshelferin Monika Hauser, die medica mondiale gründete von Srebrenica erfuhr. Die Kamera läuft einfach weiter. Es entsteht eine Dokumentation von Aktivismus als eines Art des Nicht-Anders-Können. Auch Alex Gerbaulet bohrte tief mit ihrem MARGIT von 2002. Gerbaulet filmt sich und ihre Freundin bei der Erstbegehung des Hauses ihrer Großeltern, nachdem es vollständig ausbrannte. Bei dem Brand starb auch ihre Großmutter. Gerbaulet setzt keine Denkmäler, sie erzählt – brillant pointiert geschrieben – vom Aufwachsen mit zumeist alkoholisierten Großeltern, der traumatischen Familiengeschichten, den erwachsenen Geheimnissen. Die Härte, die diese Kindheit ausmachte, lässt Gerbaulet in den Film als rabiate Suche zurückfließen: So durchwühlt sie die Schubladen auf der Suche nach etwas, das die Großmutter vielleicht nur ihr zurückgelassen hat. So nah an der eigenen Wunde, die aber auch so viel über die Verhärtungen der Kriegsgenerationen erzählt. Fantastisch.
DOK LEIPZIG
Seit einigen Jahren kuratiert André Eckhardt einen sagenhaften Abend bei der DOK Leipzig, der es (Abkupferungsempfehlung hiermit dezidiert formuliert) lohnt und verdient, von anderen Festivals gnadenlos adaptiert / appropriiert zu werden: Die Animation Perspectives. Eckardt lädt zu diesem intimen Format zwei Künstler*innen ein, die schon ein gewisses Werk vorzuweisen haben, aber noch „mittendrin“ sind, also weit von gewohnten Retrospektive-Kategorien entfernt. Oft sind diese Künstler*innen einander noch nicht begegnet – einige kennen bis zur herbeigeführten Begegnung noch nicht einmal die Werke des Gegenübers. Letzteres war in diesem Jahr der Fall, als Moïa Jobin-Paré und Gudrun Krebitz im bis auf den letzten Platz ausverkauften Passage-Kino aufeinandertrafen. Eckhardt nimmt die Pairings nach unterschiedlichen Gesichtspunkten war, das kann eine ähnliche Arbeitsweise sein oder eine ähnliche Perspektive. In diesem Fall war die Gemeinsamkeit der Innerlichkeit, die die Werke beider durchzieht oder auch: Der Versuch der beiden, eine vielleicht nicht für das normale Auge wahrnehmbare Welt sichtbar zu machen. Gudrun Krebitz benennt diese Welt manchmal sogar, wie in ihrem Film THE MAGICAL DIMENSION, eine Fantasiewelt, mindestens so real wie die unsere. Sie arbeitet sie manisch heraus: Mit Zeichnungen, die sie permanent anfertigt, Audioaufnahmen, selbst geschriebenen und gesprochenen Texten, Malerei und Realfilm. Das alles ist schon da in ihrem frühen, wunderbaren ACHILL, in dem sie ihre schlechte Sehkraft als Superpower umfunktioniert, die Flucht in die Unschärfe als Rettung vor dem Wahnsinn der überfordernd rationalisierenden Welt. Bei Moïa Jobin-Paré entsteht die Zwischenwelt vor allem haptisch, als manueller Prozess: Für ihre Animationsfilme bearbeitet Paré Fotografien, ritzt in sie hinein, zerkratzt und bemalt sie, entfernt Schichten und legt so neue Beobachtungen der Welt frei. Vielleicht am eindrücklichsten in SANS OBJETS, in dem wir Menschen bei Handgriffen beobachten, die wir nur erahnen können: Töpfert da jemand, wäscht hier jemand ab? Mit ihrer Technik verleiht Paré kleinen Momenten eine besondere Magie, lässt den einfachen Gesten eine gewisse Eleganz angedeihen. Und wie schön war es, die Filme der zwei in einem gemeinsamen Programm zu sehen und sie dann klug darüber reden zu hören, wie sie arbeiten, was ihnen wichtig ist an ihren jeweiligen Prozessen. Spannend bis zur letzten Minute. Und das bei einem Programm, das schon mal die zwei bis drei Stunden vollmacht, je nach Beteiligung der jeweiligen Künstler*innen selbst – und des sehr dankbaren Publikums, das so die Möglichkeit hat, in eine nur geringfügig technisch ausgerichtete Masterclass einzutauchen und so intim mit einem Werk in Berührung zu kommen.
Apropos Magie und Zwischenwelt: Die Animation Night war in diesem Jahr ein Erlebnis zum herrlichen psychedelischen Sich-Verlieren. Auch hier war Eckardt verantwortlich – er widmete ein Programm dem Phenakistiskop, das seit 1832 als Bewegungsillusion und Animationstool – die Bewegungsläufe werden auf eine Scheibe gezeichnet – eingesetzt wird. Er hatte außerdem Sculpture aus London eingeladen, ein Künstler-Duo, das sich auf die audiovisuelle Immersion konzentriert, und das ganz ohne virtuelles Kopfeinzurrgerät. Während Dan Hayhurst mit oft selbst erzeugten, auf Band aufgezeichneten Audioloops remixt und freestylt, steht ihm sein Kumpel Reuben Sutherland gegenüber: Sein Phenakistiskop befindet sich auf einem Schallplattenspieler, er wechselte ständig unzählige Scheiben / Folien (die Animationen erstellt er digital, bevor er sie dann fürs „Auflegen“ ausdruckt). Das visuelle Ergebnis wurde dann live auf die große Leinwand projiziert: Farbenfrohe Loops, freie Assoziationen, irre Welten, die miteinander kommunizierten; es wurde nie langweilig oder random, vielmehr entstand ein absoluter Sog. Und dazwischen immer wieder die Hand von Reuben, die wie die Hand Gottes zeigte, kombinierte, vernichtete, überdeckte. Manchmal jagten die Bilder den Tönen hinterher, dann wiederum umgekehrt, dann waren sie miteinander herrlich synchron: Sculpture jammten so leidenschaftlich miteinander, man spürte mitunter fast schon Jazz-Vibes. Es ist nur zu hoffen, dass sie bald wieder nach Deutschland kommen. Vielleicht lässt sich ja auch diese Kurationsidee Eckardts wieder als Inspiration aufgreifen. Hoffentlich erneut im Festivalkontext.