Oscarverleihung 2025 – eine Prognose, Teil #4

Heute Nacht werden in Los Angeles zum 97. Mal die Oscars verliehen. Nachdem es in Teil #1 um die Kurzfilme, die Dokumentarfilme und die Animierten Spielfilme, in Teil #2 um die technischen Kategorien ging und wir uns in Teil #3 die vier Schauspielkategorien und International Picture angeschaut haben, kommen wir nun zum großen Finale. Es geht um den Hauptpreis, den Oscar für den Besten Film.
Die Awards-Season hat im Unterschied zu den beiden vergangenen Jahren, als sich mit EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE (2022) und OPPENHEIMER (2023) die am Ende erfolgreichen Filme schon lange vorher angekündigt hatten, keinen eindeutigen Frontrunner hervorgebracht. Vielmehr haben zwei, vielleicht drei Filme gute bis sehr gute Chancen, am Ende The Big One zu gewinnen. Um die Spannung weiter hoch zu halten, gibt es noch vier weitere Filme, die mit ein bisschen Glück noch an den anderen vorbeiziehen können. Je nachdem, wie der Abend verläuft, könnte es am Ende noch eine große Überraschung geben, sollten z.B. A COMPLETE UNKNOWN oder WICKED über Gebühr auch in Kategorien gewinnen, in denen sie eigentlich als Außenseiter galten.
Generell erwarte ich für 2025 keinen Sweeper, also keinen Film, der wie die beiden letzten Besten Filme je sieben Oscars abräumt. Wahrscheinlich vergibt die Academy ihre Preise eher nach dem Prinzip Gießkanne. Ein Best Picture-Gewinner, der am Ende drei oder vier Oscars auf sich vereinen kann, so wie es in den meisten Jahren seit der Einführung des Preferential Ballot im Jahr 2009 der Fall war. Um eine Idee zu bekommen, welcher Film am Ende gewinnen könnte, lohnt es sich, auf den Ausgang in einigen Kernkategorien zu achten.
Von den letzten 15 Besten Filmen (seit Einführung des Preferential Ballot 2009) gewannen 3 Filme für den besten Score, vier Filme für den besten Schnitt, fünf Filme für die/den besten Hauptdarstellerin und 6 für die/den besten Nebendarstellerin. Die meisten Überschneidungen mit dem Hauptpreis gibt es aber in den Kategorien Regie (neun mal) und Drehbuch (elf mal). Wer in einer oder besser noch in beiden Kategorien gewinnt (letzteres kam seit 2009 fünfmal vor), hat sehr gute Chancen, als Bester Film des Jahrgangs 2024 in die Annalen der Academy einzugehen.
Es ist daher sinnvoll, den letzten Teil meiner Oscarprognose 2024 mit diesen beiden Kategorien zu beginnen.
I. Drehbuch

a) Original Drehbuch
Alle hier nominierten Drehbücher wurden von ihren jeweiligen Regisseuren verfasst oder mit verfasst.
Wird gewinnen: ANORA von Sean Baker. Der ist seit mehr als zwanzig Jahren im Geschäft und hat sich in dieser Zeit einen Namen als Independent-Auteur gemacht, der den Fokus seiner Geschichten immer auf Jene richtet, die am unteren Rande der Gesellschaft existieren. Sex Worker, Prostituierte, Pornodarsteller*innen oder, wie im Falle ANORA, auf eine Stripperin und Gelegenheitsprostituierte, die eine Chance ergreift, ihrer prekären Situation zu entkommen, um dann lernen zu müssen, dass Glück und Wohlstand in dieser Gesellschaft nur jenen vorbehalten scheint, die davon eh schon im Übermaß haben. Was nach einem beinharten Drama klingt, entwickelt sich unter der Feder Bakers in eine grandiose Farce. Eine Komödie, die den tragischen Teil der Geschichte aber nicht vergißt. Lange galt ANORA als wahrscheinlichster Gewinner des Drehbuchoscars – sozusagen als Trostpreis – da man nicht davon ausging, dass der Film auch in der Hauptkategorie gewinnen würde. In den letzten Wochen hat sich das Blatt gewendet und ANORA geht als einer der Topkandidaten ins Rennen und ein Oscar für das Drehbuch würde nun gut ins Portfolio des künftigen Besten Films passen. Als Precursor kann ANORA immerhin den Writers Guild Award vorweisen.
Stärkste Konkurrenz bekommt ANORA zumindest auf dem Papier durch Jesse Eisenbergs Script zu A REAL PAIN. Der Roadtrip zweier jüdisch-amerikanischer Cousins durch Polen auf der Suche nach dem Geburtshaus der gemeinsamen Großmutter hat durchaus seine Fans. Das Drehbuch wurde vor einem Jahr schon beim Sundance Festival gewürdigt und erhielt vor wenigen Tagen den Film Independent Spirit Award. Der Precursor, den A REAL PAIN aber gewinnen konnte, ist der BAFTA, der Preis der britischen Film Academy, deren Mitglieder auch mehrheitlich in der Oscar-Jury sitzen. Was gegen den Erfolg des Films in dieser Kategorie spricht, ist die Statistik. A REAL PAIN ist nicht als Bester Film nominiert. Seit der Einführung des Preferential Ballot 2009 hat kein Drehbuch ohne korrespondierende Nominierung in der Hauptkategorie diesen Oscar gewonnen. Der letzte Film, der einen Drehbuchoscar gewann, ohne für Best Picture nominiert gewesen zu sein, war ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND – vor 20 Jahren.
Sollte gewinnen: THE BRUTALIST von Brady Corbet und seiner Gattin Mona Fastvold. Sieben Jahre lang schrieben die beiden an der Geschichte des jüdisch-ungarischen Migranten, der hofft, nach dem Krieg in Amerika ein neues Leben starten und an seine alten Erfolge als Architekt anknüpfen zu können, nur um zu erleben, dass die amerikanische Gesellschaft ihm nur solange huldigt, wie er bereit ist, sich von ihr ausbeuten zu lassen. THE BRUTALIST ist darüber hinaus aber auch die Geschichte einer Ehe, die nach einer schrecklichen und langen Trennung wieder Fuß fassen muss. Corbet und Fastvold wechselten sich beim Schreiben ab, um so auch den unterschiedlichen Perspektiven der Eheleute Rechnung zu tragen. Herausgekommen ist das Drehbuch zu einem Film, dem schon jetzt als Meisterwerk und als eines der großen amerikanischen Epen unser Zeit applaudiert wird.
Auch THE SUBSTANCE, Coralie Fargeats Drehbuch zu ihrer wilden Bodyhorror-Satire auf den Schönheitswahn, hat noch Außenseiterchancen. Die Französin Fargeat ist als neunte Frau auch für Regie nominiert, wird diesen Preis aber kaum gewinnen. Mit einem Oscar für ihr Drehbuch könnte die Academy Fargeats noch junger Karriere einen schönen Anschub gewähren. Wenn man das Original in „Original-Drehbuch“ ernst nimmt, müsste Fargeat eigentlich gewinnen. THE SUBSTANCE ist gewiss das originellste hier nominierte Werk und würde gut zu früheren Gewinnern in dieser Kategorie passen, wie z.B. HER (2013), GET OUT (2017), PARASITE (2019), PROMISING YOUNG WOMAN (2020) oder EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE (2022),
Außerdem nominiert: SEPTEMBER 5, der das Attentat bei den Olympischen Spielen in München 1972 aus der Perspektive der ABC-Fernsehreporter nacherzählt. Das Team sollte eigentlich über die Wettkämpfe berichten, hatte aber während der schrecklichen Ereignisse in den israelischen Mannschaftsquartieren als Einziges die Kapazitäten, die Weltöffentlichkeit live und vor Ort darüber zu informieren. Für die deutsch-amerikanische Ko-Produktion sind neben Regisseur Tim Fehlbaum auch Moritz Binder und Alex David nominiert.
b) Adaptiertes Drehbuch
Wird gewinnen: CONCLAVE von Peter Straughan nach dem Roman von Robert Harris. Der Vatikan-Thriller, in dem Kardinal Lawrence (Ralph Fiennes) die Wahl eines neuen Papstes leiten muss und dabei auf allerlei Ungereimtheiten, Intrigen und Winkelzüge machtbewusster Kollegen stößt, gewann den Golden Globe, den Critics Choice Award und den BAFTA. Sollte CONCLAVE tatsächlich eine Chance haben, Bester Film zu werden, wäre dieser Oscar essentiell, da Regisseur Edward Berger nicht nominiert wurde und der Film neben dem Drehbuch nur in der Kategorie Filmschnitt eine realistische Chance auf einen Academy Award hat. Die Kombination Drehbuch-Schnitt-Film ist allerdings durchaus realistisch.
Sollte gewinnen: NICKEL BOYS von RaMell Ross, der auch Regie führte, und Joslyn Barnes nach dem Roman von Colson Whitehead, der von der Freundschaft zweier junger Afroamerikaner erzählt, die sich in der titelgebenden Besserungsanstalt in Florida kennen lernen. Der Roman gilt als moderner Klassiker der amerikanischen Literatur. Ross und Barnes haben die Erzählstruktur des Romans aber aufgebrochen und erzählen diese tragische Geschichte konsequent aus der Ich-Perspektive verschiedener Figuren. NICKEL BOYS gilt vielen Kritikern in Amerika als einer, wenn nicht gar der beste Film des Jahres. Bei den Oscars hat es leider nur für zwei Nominierungen gereicht – für Film und Drehbuch. Vor zwei Jahren konnte Sarah Polley auf diesem Weg einen Oscar für WOMEN TALKING gewinnen. Es bleibt also Hoffnung für Ross und Barnes.
Auch die Hauptfiguren in SING SING haben ihre Freiheit eingebüßt und sitzen im legendären, titelgebenden Hochsicherheitsgefängnis in New York ein. Der wegen Mordes verurteilte John „Divine G“ Whitfield (im Film von Colman Domingo gespielt) hat sich neben dem Studium des Rechts auch einer Theatergruppe verschrieben, die es seinen Mitgefangenen ermöglichen soll, dem eintönigen Alltag zu entfliehen, andere Perspektiven kennenzulernen, sich mit den eigenen Fehlern auseinanderzusetzen und im Idealfall zu rehabilitieren. Das RTA („Rehabilitation Through the Arts“) Programm gibt es tatsächlich. Gemeinsam mit seinem ehemaligen Mitgefangenen Clarence Maclin, der sich im Film selbst spielt und leider nicht als Nebendarsteller nominiert wurde, sowie Regisseur Greg Kwedar und dem professionellen Autor Clint Bentley verfasste Whitfield das Drehbuch zu diesem bemerkenswerten und sehr bewegenden Film. Grundlage für Kwedars Interesse an einer Zusammenarbeit mit Whitfield und Maclin war ein Esquire-Artikel von John H. Richardson mit dem Titel „The Sing Sing Follies“. Alle vier sind für den Oscar nominiert.
Außerdem nominiert: A COMPLETE UNKNOWN von James Mangold und Jay Rocks nach dem Sachbuch „Dylan Goes Electric!“ von Elijah Wald, das die frühen Jahre der Karriere Bob Dylans beleuchtet, bis zu seinem legendären Bruch mit der Folk Szene beim Newport Folk Festival 1965. Mit viel Kompetenz gibt der Film Einblick in eine Szene Anfang der 1960er Jahre zwischen Tradition und Aufbruch und gewährt dabei auch der Musik, um die es im Kern ja geht, viel Raum.
EMILIA PÉREZ von Jaques Audiard sowie Thomas Bidegain, Léa Mysius and Nicolas Livecchi. Grundlage ist ein Opern-Libretto, das Audiard inspiriert von einer Nebenfigur in Boris Razons Roman „Écoute“ verfasste. Aus der Geschichte eines Transgender-Drogendealers, der von einer geschlechtsangleichenden Operation träumt, entwickelte Audiard schließlich das Musical-Drama über den brutalen mexikanischen Kartellboss Manitas, der/die als elegante Wohltäterin Emilia Pérez ein neues Leben beginnt, bevor sie das alte wieder einholt. Als wilder Stilmix angelegt, verheddert sich EMILIA PÉREZ immer wieder in verschiedenen Erzählsträngen. Wie bereits erwähnt, gab es aus Mexiko viel Kritik an der verunglimpfenden Darstellung der mexikanischen Kultur und aus der Trans-Community an der fragwürdigen Präsentation von Trans-Identität. Nach der Kontroverse um Hauptdarstellerin Karla Sofía Gascón und ein als arrogant empfundenes Interview Audiards würde ich auf EMILIA PÉREZ in dieser Kategorie keinen Cent wetten.
II. Regie

Wird gewinnen: Sean Baker für seine dynamische und seiner Protagonistin zugewandte Regie von ANORA. Für Baker ist dieser Film der große Durchbruch. Zwar war zuvor schon für Filme wie TANGERINE (2015), THE FLORIDA PROJECT (2017) oder RED ROCKET (2021) bekannt, doch die Anerkennung, die Baker für ANORA erfährt, ist überwältigend. Nachdem sein Film die Goldene Palme gewann und bei den Critics Choice Awards als Bester Film gewürdigt wurde, konnte Baker auch den Director’s Guild Award entgegen nehmen. In neun von zehn Fällen geht der Regie-Oscar an den DGA-Gewinner. Bakers Aktien stehen also auf Sieg. Sollte er hier gewinnen, steht ANORA auch als Bester Film so gut wie sicher fest.
Sollte gewinnen: Brady Corbet für THE BRUTALIST. Corbet, der seine Karriere als Schauspieler begann, hat jahrelang für diesen Film gekämpft. THE BRUTALIST ist erst seine dritte Regiearbeit. Sie sieht aber aus wie die eines Meisterregisseurs, der auf eine jahrzehntelange Karriere zurückblicken kann. Mit einem vergleichsweise niedrigen Budget von knapp 11 Millionen $ hat Corbet ein Dreieinhalbstundenepos inszeniert, das sich vor den großen Klassikern des amerikanischen Kinos nicht zu verstecken braucht. Er gewann dafür im Januar den Golden Globe und sah schon wie der sichere Preisträger in dieser Kategorie aus. Dann aber ging der DGA an Sean Baker und ANORA begann THE BRUTALIST an Preisen zu überflügeln. Bei den BAFTAs wurde wieder Corbet ausgezeichnet. Es bleibt also ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Möglich wäre auch ein Split, dass also die Oscars für Bester Film und Regie an zwei verschiedene Filme gehen. Seit der Einführung des Preferential Ballot 2009 gewann in neun Fällen ein Film beide Awards, sechsmal gingen beide Preise aber an zwei verschiedene Filme. Sollte dies in diesem Jahr der Fall sein, gehe ich davon aus, dass ANORA (oder CONCLAVE) Bester Film wird, Regie aber an Corbet für THE BRUTALIST geht.
Außerdem nominiert: James Mangold für seine kompetente Inszenierung von A COMPLETE UNKNOWN. Mangold ist seit über dreißig Jahren im Geschäft und in vielen Genres erfolgreich. Eine persönliche Handschrift ist bei ihm schwer zu erkennen, seine Arbeit aber nur als solide zu beschreiben, würde ihm auch nicht gerecht werden. Für seinen Bob Dylan-Film ist er erstmals für Regie nominiert. Sollte er den Preis tatsächlich gewinnen, wäre das aber eine große Überraschung.
Jaques Audiard ist für EMILIA PÉREZ nominiert, hat sich aber mit seinen unbedachten Äußerungen zu Mexiko selbst aus dem Rennen genommen. Der in vielen Genres versierte Franzose könnte aber zumindest für den besten Original-Song gewinnen.
Ebenfalls aus Frankreich stammt Coralie Fargeat, die einzige Frau, die es in diesem Jahr auf die Short List für Regie geschafft hat. THE SUBSTANCE ist Fargeats zweite Regiearbeit nach REVENGE (2017) und stellt ihren großen Durchbruch dar. Auch wenn sie in dieser Kategorie wohl leer ausgeht, stehen ihr in Hollywood nun alle Türen offen und man darf auf ihren nächsten Film gespannt sein.
III. Bester Film

Es ist ein Two-Horse-Race und wird bis zum Schluß ein echter Nailbiter. Entscheidet sich die Academy für gediegenes Ausstattungskino oder turbulentes Independent Cinema. Eine Entscheidung bringt wohl nur das Preferential Ballot. Diese Präferenzabstimmung oder Rangfolgewahl führte die Academy im Jahr 2009 ein, bei gleichzeitiger Ausweitung der Short List in der Hauptkategorie von fünf auf zehn Nominierte. Die Academy wollte damit dem Vorwurf begegnen, sie sei zu elitär und würde nur Filme auszeichnen, die kein großes Publikum anlocken. Mit dem Preferential Ballot wurde ein Konsenssystem eingeführt, das in den letzen Jahren einige der interessantesten Best Picture-Gewinner hervorgebracht hat. Beste Filme, wie 12 YEARS A SLAVE (2013), BIRDMAN… (2014), MOONLIGHT (2016), THE SHAPE OF WATER (2017), PARASITE (2019), NOMADLAND (2020) oder EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE (2022). Allesamt Filme, die in früheren Jahren durchgefallen und vermutlich nicht einmal nominiert worden wären.
Beim Preferential Ballot gibt jedes Academy Mitglied für den Besten Film nicht nur eine Stimme sondern eine Rangfolge ab. Der nach jeweiliger Auffassung beste Film steht auf Platz 1, der schwächste auf Platz 10. Taucht ein Film bei mehr als 50 % der abgegebenen Ranglisten auf Platz 1 auf, hat er den Oscar gewonnen. Das wird aufgrund des engen Rennens in diesem Jahr kaum der Fall sein. Daher werden die Ballots erneut ausgezählt. Der Film mit den wenigsten Platz 1-Notierungen wird gestrichen und auf den jeweiligen Ranglisten rutscht der nächst genannte Film auf Platz 1. Filme, die auf vielen Abstimmungszetteln auf Platz 2 oder 3 genannt werden, haben in diesem Verfahren also gute Chancen, am Ende auf genügend Stimmen zu kommen. Am Ende steht als Konsens der Film, den die meisten Academy Mitglieder am besten, sehr gut oder zumindest gut gefunden haben, auf Platz 1 und gewinnt den Oscar.
Wird gewinnen: In einem Beliebtheitswettbewerb könnte am Ende ANORA gewinnen, der zwar toughe Themen bearbeitet, das Ganze aber so gewitzt und unterhaltsam wie ein Feel-Good-Movie erzählt. Am Ende lässt er an der Tragik der Geschichte aber keinen Zweifel. ANORAs Erfolgsgeschichte begann im Mai, wo er in Cannes mit der Goldenen Palme als bester Film ausgezeichnet wurde. Seitdem galt er als sicherer Oscarnominierungskandidat. Dass die Academy tatsächlich einen Film über eine Stripperin auszeichnen würde, der neben viel profaner Sprache auch viel nackte Haut zeigt, konnten sich aber wohl die Wenigsten vorstellen. Bei den Golden Globes ging der Film trotz fünf Nominierungen leer aus. Ein ähnliches Schicksal drohte ihm bei den BAFTAs. Doch dann gewann er für das beste Casting und Hauptdarstellerin Mikey Madison. Ein echter Punch gelang ANORA dann drei Wochen vor der Oscarverleihung mitten im Abstimmungsprozess. Innerhalb von 24 Stunden gewann ANORA den CCA als bester Film, den DGA und den Producers Guild Award. Diese Kombination ist fast unschlagbar und macht Bakers Film fast zwangsläufig zum Top-Kandidaten.
Aber eben nur fast, denn es gibt in der Academy auch immer noch die viel beschworene Old Guard, ältere Academy-Mitglieder, die mit einer wilden Geschichte wie ANORA vielleicht weniger anfangen können. Bei diesem Teil der Oscar-Jury dürfte Edward Bergers Vatikan-Thriller CONCLAVE höher im Kurs stehen. Die Robert Harris-Verfilmung ist ein sehr guter Film und tolles Unterhaltungskino und wartet mit einer Schlußpointe auf, die sogar einem woken Publikum gefallen dürfte. Dennoch kam CONCLAVE lange nicht zum Zug. Er war überall nominiert. Außer den Preisen für sein Drehbuch ging er aber in der Regel leer aus. Erst die letzten beiden Wochen brachten eine mögliche Wende. CONCLAVE gewann den BAFTA als bester Film und den Screen Actor’s Guild Award für das beste Ensemble (das SAG Pendant für den besten Film). Der britische Voting Block und die Schauspieler, die immer noch die meisten Academy Mitglieder stellen, entschieden sich also mehrheitlich für CONCLAVE. Bei den SAG-Awards ging ANORA sogar gänzlich leer aus.
Unterm Strich glaube ich trotzdem, dass ANORA leicht im Vorteil ist, würde mich über einen Sieg von CONCLAVE aber nicht wundern.
Sollte gewinnen: Der Oscar könnte natürlich immer noch auch an THE BRUTALIST gehen, der die Schlussphase der Award Season ja mit einem Triumph bei den Golden Globes einläutete. Das größte Problem für THE BRUTALIST war immer seine Länge und die Frage, ob ihn wirklich alle Academy Mitglieder zu Ende gesehen haben. Auch die z.T. harsche Kritik, die der Film an das amerikanische System richtet, mag nicht Jedem geschmeckt haben. In einer gerechten Welt wäre aber THE BRUTALIST der ganz klare Frontrunner für den Hauptpreis.
Außerdem nominiert: Das Bob Dylan-Biopic A COMPLETE UNKNOWN, über das hier schon viel geschrieben wurde, ist für acht Oscars nominiert und wird nach meiner Prognose komplett leer ausgehen. Manchmal ist ja schon die Nominierung der größte Erfolg. An den Kinokassen hat sich das für den Film auf jeden Fall ausgezahlt.
DUNE: PART TWO, der die dramatische Geschichte vom Aufstieg und Fall (na, noch nicht ganz) des Paul Atreides weiter erzählt. Die Verfilmung des ersten Dune-Romans von Frank Herbert ist damit abgeschlossen. Die Fans dürsten nach mehr und wenn DUNE MESSIAH nur halb so gut ist, wie dieser Film, wird auch er, wie seine beiden Vorgänger für den Oscar nominiert werden.
EMILIA PÉREZ, in dem ein Kartellboss ein neues Leben in einer neuen Identität beginnt und von den Dämonen seiner Vergangenheit eingeholt wird, ist ein buntes, wildes, ausgesprochen unterhaltsames Musical, das es mit kohärenter Erzählweise und Logik nicht allzu genau nimmt. Die Probleme des Films habe ich schon beschrieben. Trotz 13 Nominierungen wird er hier leer ausgehen.
FÜR IMMER HIER, der erste brasilianische und der erste südamerikanische Film überhaupt, der für den wichtigsten Oscar ins Rennen geht. Das Drama über die Zeit der Militärdiktatur, willkürliche Verschleppungen und Ermordungen von Oppositionellen, ist leider aktueller denn je. Die Nominierung für den Besten Film war dennoch eine große Überraschung und fast die beste in diesem Oscarjahrgang.
Denn auch NICKEL BOYS hatte trotz herausragender Qualität und überwältigendem Zuspruch bei der Kritik, seine Probleme überhaupt nominiert zu werden. Dass er nun doch hier steht, ist ein gutes Zeichen für die Bereitschaft der Academy, sich auch solchen nicht ganz einfachen, aber künstlerisch wertvollen Filmen zu öffnen.
Das gilt auch für THE SUBSTANCE, einen Film, der noch vor wenigen Jahren komplett von den Oscars ignoriert worden wäre. Coralie Fargeats knackig erzählte, beißende Verhöhnung von Schöheitswahn und Selbstoptimierungsirrsinn mündet in ein Splatter-Finale, dass man so noch nie in einem für den Oscar für den Besten Film nominierten Werk gesehen hat. Ich finde das großartig und hoffe, dass THE SUBSTANCE kein Strohfeuer ist.
Und schließlich noch WICKED, die ausgesprochen erfolgreiche Verfilmung des außergewöhnlich beliebten Broadway-Musicals, das die Geschichte des Wizards Of Oz um seine misogynen Elemente bereinigt neu erzählt. Ein protofeministisches Musical, das sich gegen autoritäre und xenophobe Machtstrukturen auflehnt, ist im Zeitalter Donald Trump ja auch keine schlechte Antwort, wenn nur die Musik nicht so …aber lassen wir das. Jedem sein Geschmack. Obgleich die WICKED Fans den Film via social Media zum Besten Film hypen wollten, wird daraus erstmal nichts. Vielleicht klappt es ja nächstes Jahr, wenn der zweite Teil rauskommt.
Soviel an dieser Stelle von mir. Ich wünsche allen, die sich heute Nacht die Oscars anschauen viel Spaß. Es wird gewiss ein spannender Abend.
Thomas Heil schaut seit 1992 die Oscars – und stellt jedes Jahr seine Favoriten zusammen. Seine Lieblingsfilme haben es oft nicht auf die Liste geschafft, aber darum geht es ja auch nicht, denn Film ist Kunst und kein Wettbewerb, wie man auch über Sinn und Unsinn solcher Preisverleihungen streiten kann. Nur soviel: man sollte sie gewiss nicht zu ernst nehmen.