„Austerlitz“ von Sergei Loznitsa


"Austerlitz" von Sergei Loznitsa sicherte sich beim 59. Dok Leipzig den Festival-Hauppreis, die goldene Taube. Copyright: Imperativ Film

„Austerlitz“ von Sergei Loznitsa sicherte sich beim 59. Dok Leipzig den Festival-Hauppreis, die goldene Taube. Copyright: Imperativ Film

Mit der Strandhose nach Ausschwitz

Gibt es eigentlich Benimmregeln, wenn man sich mit der Tötungsmaschinerie des Dritten Reichs beschäftigt? Dieser Frage geht Sergei Loznitsa mit seinem Film „Austerlitz“ nach, der jüngst bei der Dok Leipzig als bester Film mit einer goldenen Taube ausgezeichnet wurde und der verschiedene Konzentrationslager in der Jetzt-Zeit in den Blick nimmt.

Mit einer zurückgenommenen Kamera, die oft nicht sichtbar platziert zu sein scheint, und in einem bedächtigem Schwarz-Weiß fängt Loznitsa ein, wie die Besucher mit Audioguides, Selfie-Sticks und Kameras bewaffnet durch die Lager laufen (oder flanieren). Alle sind dabei: ältere Damen und Herren, aber auch junge Männer und Frauen in kurzen Shorts und luftigem Kleidchen und Mütter an Kinderwägen mit schreienden Babys. Dabei richtet der Regisseur die Kamera ausschließlich auf die Besucher und fängt ihre Blicke auf Exponate, Schrifttafeln und andere Überreste des unermesslichen Verbrechens ein, oft ohne jemals konkret zu zeigen, was sie denn da eigentlich sehen.

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Auf den Gesichtern der KZ-Besucher spiegelt sich Interesse, Langeweile, Teilnahmslosigkeit, aber nur selten Betroffenheit. Oft posieren die Leute, einer imitiert einen Sterbenden am Marterpfahl. Die Diskrepanz zwischen Ort und Reaktion ist augenfällig, man erwischt sich bei der Stereotypisierung des geschichtlichen Nachgeborenen, von dem man insgeheim Schock und Entsetzen erwarten würde.
Dass man als Beobachtender die Beobachtenden dennoch nicht verurteilt, ist Loznitsas Zurückhaltung geschuldet: er zeigt die Dinge, aber er beurteilt sie nicht, er dokumentiert ohne Zuspitzung, ohne Fingerzeig. Aus dieser sowohl ästhetischen als auch moralischen Perspektive erwächst so etwas wie die Komplexität des Erinnerns, das nun einmal verschiedene Formen annehmen kann. Das eine einzige, richtige Erinnern, so scheint „Austerlitz“ zu sagen, das gibt es gar nicht.

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