70. Berlinale: „DAU. Natascha“ von Ilya Khrzhanovskiy & Jekaterina Oertel


Natalia Berezhnaya (links), Luc Bigé und Olga Shkabarnya in „DAU. Natasha“ von Ilya Khrzhanovskiy und Jekaterina Oertel dem Skandalfilm der Berlinale 2020. © Phenomen Film

Sadistische Rollenspiele

Das multidisziplinäre Projekt „DAU“ des russischen Künstlers Ilya Khrzhanovskiy unter der Co-Regie von Jekaterina Oertel sorgt seit Jahren für Diskussionsmaterial. In der ukrainischen Stadt Kharkiv wurde von 2007 an das detaillierte Abbild einer sowjetischen Stadt aus der Stalin-Zeit nachgebildet. Alles sollte „echt“ erscheinen, Kostüme, Filmsets, auch die Akteure sollten in dem fiktionalisierten Umfeld ihrer realen Tätigkeit nachgehen. Wissenschaftler spielten Wissenschaftler, Kellnerinnen spielten Kellnerinnen und Prostituierte spielten Prostituierte. Angeblich sei dies die größte Filmkulisse, die jemals in Europa errichtet wurde, verkündet die Pressemitteilung. Insgesamt waren demnach 10.000 Komparsen beteiligt, welche ein ungeskriptetes Leben in dieser hyperrealen Scheinwelt aus der Zeit zwischen 1938 und 1968 führten. Das Millionen-Budget wurde vom Medienboard Berlin-Brandenburg, WDR, Arte und zum Großteil von dem russischen Oligarchen Sergey Adonyev zur Verfügung gestellt. Auch prominente Akteure wie die Performance-Künstlerin Marina Abramović, der Fotograf Boris Mikhailov oder die Musiker Robert Del Naja (Massive Attack) und Brian Eno sollen zeitweise beteiligt gewesen sein.

Es war lange Zeit unklar, wann dieses über eine Drehzeit von 40 Monaten entstandene und auf insgesamt 700 Stunden 35mm-Film festgehaltene Monumentalprojekt das Licht der Leinwand erblicken würde. Nun wurde das erste Filmwerk „DAU. Natascha“ aus dem ambitionierten Zyklus bei der Berlinale präsentiert und Medien erhoben bereits im Vorfeld schwere Vorwürfe gegen Khrzhanovskiy (nicht jedoch gegen die Co-Regisseurin Oertel). Dieser soll sich demzufolge innerhalb seines stalinistischen Simulacrums manipulativ und wie ein Diktator verhalten haben. Die taz berichtete von einer anonymen ehemaligen Projekt-Mitarbeiterin in Berlin, die behauptet, dass in dem Filmmaterial eine Vergewaltigung aufgenommen worden sei und dass sie für ihre Arbeitstätigkeit eine Schweigeerklärung unterschreiben musste. Da der Wahrheitsgehalt dieser Anschuldigungen derzeit unklar ist und auch nicht ausgeschlossen werden kann, dass derartige Berichte eventuell Teil einer Marketingkampagne sein könnten, um „DAU“ als skandalträchtiges Werk zu bewerben, werde ich mich an den journalistischen Grundsatz halten, dass nur eine verifizierbare Quelle eine zitierbare Quelle darstellt. Aus diesem Grund bespreche ich die bei der Weltpremiere am 26. Februar 2020 bei der Berlinale gezeigte 145-minütige Fassung des Films „DAU. Natasha“ unter der Annahme, dass sämtliche gezeigte Handlungen im Einvernehmen mit allen Beteiligten vor und hinter der Kamera stattgefunden haben. Sollte sich Gegenteiliges herausstellen, werde ich mein Urteil revidieren und – nach Möglichkeit – dazu Stellung beziehen.

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