NEVER RARELY SOMETIMES ALWAYS von Eliza Hittman



Die Zuschauer begleiten die beiden Mädchen auf einem Weg, der nicht nur steinig ist, sondern mit jedem Schritt unwägbarer wird. Die Erwachsenen stehen ihnen nicht nur nicht bei, sie kommen schlicht nicht als Unterstützung infrage. Regisseurin Eliza Hittman bleibt ganz bei ihren Protagonistinnen und derer Perspektive… und doch erzählt sie dadurch gleichzeitig eine Geschichte einer Welt, die groß wie grausam ist.
Autumn und Skylar haben sich damit abgefunden, dass Jungs und Männer sie zu Objekten reduzieren, wenn sie sie beschimpfen, sie schmierig zum Geburtstagsbesäufnis einladen oder der Supermarktboss der beiden die Finger von Skylar hinter einer Durchreiche ableckt, wenn sie ihm die Kasse mit den Einnahmen des Tages reicht. Als stille Rache verschwinden einige der Scheine in der eigenen Tasche oder knutscht Skylar mit dem Typen, den die beiden im Bus kennenlernen, um von ihm das nötige Geld für die Rückfahrt zu schnorren. Beide wissen, er interessiert sich nicht wirklich für ihre Leben oder wenigstens das von Skylar, die er anbaggert. Daran lässt Hittman keinen Zweifel, wenn sie zeigt, wie sein (männlicher) Blick beim Bowling auf Skylars Hintern statt auf den Kegeln klebt und schon bald seine Hand nicht zufällig auf ihrem Oberschenkel landet, um dort ungefragt zu verharren.

Die eindrücklichste Szene des Films, der er auch seinen Titel verdankt, erklärt, wie es so weit kommen konnte. Gemeinsam mit einer Schwangerschaftsabbruchs-Beraterin geht Autum einen Fragebogen durch, der nach dem ersten Sex fragt; nach der Anzahl von Sexualpartnern; vielem mehr – und eben auch, ob der Sex einvernehmlich oder gewalttätig war. Ihre Antwortoptionen: Never; Rarely; Sometimes; Always (Nie; Selten; Manchmal; Immer). Es bedarf keiner weiterführender Erklärungen.
Das Gesicht von Sidney Flanigan erzählt in diesen Momenten so viel mehr als die wenigen Worte, die ihr kaum über die Lippen kommen. Es lässt einem den Atem stocken und löst Betroffenheit aus. Die Szene ist das Meisterstück in der Performance der jungen Musikerin, die NEVER RARELY SOMETIMES ALWAYS ihr Debüt gibt.

Hittman beweist, wie wenig es für ganz großes Kino braucht. Sie verlässt sich auf ihre Protagonistinnen – und die sich umgekehrt auf die Regisseurin. Gemeinsam setzen die Frauen ein beeindruckendes Statement zu dem in den puritanisch geprägten USA deutlich kontroverser diskutierten Thema Abtreibung.

Denis Demmerle

NEVER RARELY SOMETIMES ALWAYS; Regie: Eliza Hittman; DarstellerInnen: Sidney Flanigan, Talia Ryder, Théodore Pellerin, Ryan Eggold, Sharon Van Etten; Kinostart: 11. Juni 2020

Bei der 70. Berlinale wurde „Never Rarely Sometimes Always“ mit dem Silbernen Bären – Großer Preis der Jury ausgezeichnet.

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