71. Berlinale: THE FAM (OT: LA MIF) von Fred Baillif – Grand Prix Generation 14plus

Der Schweizer Regisseur Fred Baillif, der selbst ausgebildeter Sozialarbeiter ist, als Autodidakt zum Filmemachen kam und neben Spiel- auch einige Dokumentarfilme drehte, erzählt die gleichzeitig abgelaufenen Geschichten der verschiedenen Heimbewohnerinnen nacheinander, so dass jeweils eine weitere Perspektive zu den bereits gesehenen Ereignissen im und um das Jugendheim hinzukommt. Nach und nach laufen so alle Erzählstränge zusammen.

Inspiriert durch „Cinéma vérité“ und „Direct Cinema“ entwickelte Baillif seinen eigenen Stil. Er drehte THE FAM in nur zwei Wochen, ausschließlich mit Handkamera und mit viel natürlichem Licht – und ließ die Darsteller:innen alle Dialoge improvisieren. Die jungen Laienschauspielerinnen entwickelten ihre Geschichten mit und spielen sehr überzeugend. Mehrere der erwachsenen Schauspieler:innen, u.a. Claudia Grob als Lora und Nadim Ahmed als Malik, waren selbst als Sozialarbeiter:innen tätig und ließen eigene Erfahrungen in ihr natürlich wirkendes Spiel einfließen. Gedreht wurde in einem echten Jugendheim – ein paar der dort tätigen Sozialarbeiter:innen sind auch im Film als solche zu sehen.

So gelingt Fred Baillif ein sehr glaubwürdiger, realitätsnaher Spielfilm, in dem die Grenzen zum Dokumentarfilm immer wieder bewusst verwischen. Auf der Berlinale 2021 erhielt Baillif für THE FAM den Großen Preis der Internationalen Jury für den Besten Film im Wettbewerb Generation 14plus. Baillif und sein Team haben vielschichtige Figuren erschaffen, die Fehler machen dürfen und für die man trotzdem Verständnis aufbringen kann. Nach allem, was die Mädchen und jungen Frauen erlebt haben, bilden das Jugendheim und die dortige Gemeinschaft, die Familie, einen sicheren Hafen für sie – zumindest meistens. Auch wenn es nicht selten Probleme zwischen den Bewohnerinnen und ihren Betreuer:innen gibt, gehen alle sehr offen und ehrlich miteinander um und versuchen, gemeinsam Lösungen zu finden – was natürlich nicht immer gelingt.
THE FAM bringt realistische Geschichten aus einem Jugendheim auf die Leinwand, die erschüttern und die häufiger in der breiten Öffentlichkeit diskutiert werden und ja, auch im Kino, stattfinden sollten.

Stefanie Borowsky

THE FAM (OT: LA MIF), Regie: Fred Baillif; Darsteller:innen: Claudia Grob, Anaïs Uldry, Kassia da Costa, Sara Tulu, Charlie Areddy, Joyce Esther Ndayisenga, Amélie Tonsi, Amandine Golay, Nadim Ahmed, Frédéric Landenberg.