ALL WE IMAGINE AS LIGHT von Payal Kapadia


ALL WE IMAGINE AS LIGHT © kinofreund eG
ALL WE IMAGINE AS LIGHT © kinofreund eG

City of Dreams

Lange Zeit drohte 2024, als eher medioker Kinojahrgang in Erinnerung zu bleiben. Es gab zwar einige gute und sehenswerte Filme im Frühjahr und Sommer (viele noch als Überhang vom letzten Jahr). Erst in den letzten Wochen hat das Kino nochmal an Fahrt aufgenommen, kommen endlich die großen Hits aus Sundance, Berlin, Cannes oder Venedig auch hierzulande in die Lichtspielhäuser, kann sich endlich auch das gemeine Publikum einen Reim auf zuvor von der Kritik hochgelobten Werke machen.

Wenige Tage vor Weihnachten ist nun auch ein Film bei uns zu sehen, der seit seiner Premiere in Cannes hohen Wellen der Begeisterung auslöste und von Kritikern auf der ganzen Welt als Meisterwerk gepriesen wurde. Man sollte sich von dem Hype nicht ablenken lassen. Die Schönheit dieses Films erschließt sich vielleicht erst auf den zweiten Blick – vielleicht erst, wenn man den Kinosaal schon verlassen hat, auf dem Weg nach Hause ist.

ALL WE IMAGINE AS LIGHT beginnt mit Straßenszenen aus Mumbai, der Millionenmetropole an der Westküste Indiens. Unterlegt sind die Bilder von Marktständen, Bahnhöfen und Zügen mit Stimmen, die aus Briefen zitieren, die vom Wunsch nach einem Neuanfang erzählen, nach einem neuen Job, einer neuen Liebe. Stimmen, die nach Zuversicht und Hoffnung klingen, aber noch öfter nach Einsamkeit und Verlorenheit im gewaltigen Moloch. Eine „Stadt der Träume“ ist Mumbai für viele, die vom Land hierher ziehen – auch für die drei Protagonistinnen des Films.

Im Zentrum steht Prabha (Kani Kusruti), die als Krankenschwester arbeitet, gewissenhaft ihrem Job nachgeht und sich eine kleine Wohnung mit der jüngeren Anu (Divya Prabha) teilt, die ebenfalls im Krankenhaus arbeitet. Prabha hat einen Ehemann, den sie kaum kennt, da er sich kurz nach der arrangierten Hochzeit ins ferne Deutschland abgesetzt hat, um dort Arbeit zu finden. Seit über einem Jahr haben die beiden nicht telefoniert und Prabha weiß nicht, ob sie ihn je wiedersieht und ob er überhaupt noch ihr Mann ist.

Anu hat ganz andere Sorgen. Während ihre Eltern immer neue Heiratskandidaten vorschlagen, hat sie ihr Liebe längst in Shiaz (Hridhu Haroon) gefunden, der allerdings als Muslim von Anus Eltern kaum akzeptiert werden wird. Anu hat, was Prabha fehlt. Doch während Prabhas formale Ehe gesellschaftlich akzeptiert wird, muss Anus Liebe im Verborgenen stattfinden. Die dritte im Bunde ist die ältere Parvaty (Chhaya Kadam), die als Köchin im Krankenhaus arbeitet und mit Prabha befreundet ist. Die Witwe droht, ihre kleine Hütte zu verlieren, da Investoren dort Wohnungen für reiche Inder bauen wollen.

Alle drei Frauen eint der Wunsch nach einem anderen Leben. Doch während Prabha auf Gerüchte über Anus Liebe missbilligend reagiert, verweigert sie sich dem eigenen Glück, dass ihr in Form eines freundlichen, um sie buhlenden Arztes erscheint. Nur selten zeigt sie ihre wahren Gefühle. Wenn sie zum Beispiel gemeinsam mit Parvaty Steine auf ein Plakat wirft, das für die neuen Apartments wirbt und mit dem Slogan „Class is a privilege reserved for the priviliged“ den krassen Klassismus der indischen Gesellschaft unterstreicht.

Die Stimmung des Films, die sich bis dahin in allen möglichen Abstufungen der Farbe blau ausdrückt, ändert sich erst, als die drei Frauen Parvatys Heimatdorf besuchen, in das die ältere Frau resigniert zurückkehrt. Es werden verstärkt surreale Elemente, die schon zuvor die Routine des Films durchbrachen (z.B. ein glänzender Reiskocher – Made in Germany – den Prabha von einem unbekannten Absender geschenkt bekommt), eingesetzt. Das Ganze gipfelt in einem magischen Erlebnis, das die Frauen veranlasst, ihr Verhältnis zueinander neu zu sortieren.

ALL WE IMAGINE AS LIGHT gehört zu einer ganzen Reihe von Filmen, die zuletzt das Dokumentarische mit dem Fiktionalen verbinden. Die Vorbilder sind groß. Schon der italienische Neorealismus versuchte, nach dem Zweiten Weltkrieg Wahrhaftigkeit in alltäglichen Geschichten von alltäglichen Menschen zu finden, gerne mit Laiendarstellern gedreht – eine Idee, die auch Payal Kapadia zunächst für ihren Film hatte. Wie Vittorio De Sica, der das Dokumentarische auf eine poetische Ebene führen wollte, sucht auch Kapadia Schönheit in Dingen, die nicht als schön angesehen werden.

Es ist der magische Realismus, den man auch aus den Filmen Apichatpong Wheerasethakuls kennt, der ALL WE IMAGINE AS LIGHT vor allem in seinem letzten Drittel seine emotionale Kraft gibt. Doch auch das Setting in Mumbai, das weite Strecken des Films bestimmt, wird von Kapadia mit großem Interesse und viel Empathie für die kleinen, unscheinbaren Details betrachtet. So trägt auch die Soundebene – z.B. der unterschiedliche Klang von Regen, der auf Straßen, Wellblechdächer oder die Blätter eines Baums fällt – zur poetischen Grundstimmung des Films bei. Kein Wunder, dass Kapadia als ihre wichtigste Inspiration die große Chronistin urbaner Isolation, Chantal Akerman, nennt.

Aber wie viele Vorbilder und Inspirationen man für den Film noch finden mag – und man könnte darüber noch ganz trefflich debattieren – ALL WE IMAGINE AS LIGHT ist ein ganz eigenständiges Meisterwerk. Ein Film, dessen tiefer und selbstverständlicher Humanismus berührt und dem es am Ende gelingt, eine zarte Fährte der Hoffnung zu legen, die im Unterschied zu vielen Hollywoodproduktionen eben nicht aufgesetzt wirkt. Von Payal Kapadia, für die ALL WE IMAGINE AS LIGHT erst der zweite Spielfilm ist, werden wir hoffentlich noch ganz viel hören und vor allem sehen.

Was die Awardschancen angeht, hat ALL WE IMAGINE AS LIGHT einen steinigen Weg vor sich. Zwar gewann der Film in Cannes, wo er als erster indischer Beitrag seit 30 Jahren und als erster Film einer indischen Regisseurin überhaupt in den Wettbewerb eingeladen wurde, den Großen Preis des Festivals (sozusagen die Vize-Palme) und darüber hinaus etliche Kritikerpreise. Er wird allerdings nicht für den Oscar für den besten internationalen Film nominiert werden. ALL WE IMAGINE AS LIGHT ist eine internationale Ko-Produktion, die vor allem mit europäischen Geld finanziert wurde. Doch weder Frankreich (das EMILIA PÉREZ ins Rennen schickt), noch Indien (das mit LAAPATAA LADIES schon ausgeschieden ist) noch eines der anderen produzierenden Länder hat ALL WE IMAGINE AS LIGHT als seinen Beitrag für die Academy Awards eingereicht.

So bleibt Kapadia nur die Hoffnung, dass ihr Film in anderen regulären Kategorien nominiert wird. Das ist nicht ausgeschlossen. Im Frühjahr gewann Justine Triet für ANATOMIE EINES FALLS einen Drehbuchoscar und war in vier weiteren Kategorien (u.a. für Regie und Bester Film) nominiert, obwohl sich Frankreich für einen anderen Beitrag entschieden hatte. Pedro Almodovar gewann 2003 ebenfalls einen Oscar für sein Drehbuch zu HABLE CON ELLA (SPRICH MIT IHR), obwohl (oder weil) Spanien einen anderen Film ins Rennen geschickt hatte. Der breite Zuspruch, den ALL WE IMAGINE AS LIGHT bei den amerikanischen Kritikern erfährt, könnte ihm also doch noch zu der einen oder anderen Oscarnominierung verhelfen. Bei den Golden Globes jedenfalls ist Payal Kapadia schon mal für ihre Regie nominiert.

ALL WE IMAGINE AS LIGHT läuft seit dem 19. Dezember im Kino.

Mögliche Oscarnominierungen: Regie, Drehbuch

ALL WE IMAGINE AS LIGHT, Regie: Payal Kapadia, Darsteller_innen: Kani Kusruti, Divya Prabha, Chhaya Kadam, Hridhu Haroon, Azees Nedumangad, Anand Sami u.v.a.