14 Films: AN EINEM SCHÖNEN MORGEN von Mia Hansen-Løve


AN EINEM SCHÖNEN MORGEN © Les Films Pelleas

Den Körper vergessen, den Körper erinnern

Der Körper erinnert sich, auch wenn er nichts mehr weiß. Sandras Papa (Pascal Greggory) leidet an einer seltenen neurodegenerativen demenziellen Krankheit: Er ist nicht blind, aber er sieht nichts mehr. Die Gegenstände verlieren zunehmend ihren Sinn und ihre Funktion. Und auch die Menschen verschwinden langsam, bis auf seine heiß und innig geliebte Laila, seine dritte Ehefrau. Beim Klang ihres Namens, wenn sie ihn berührt, blüht er kurz auf. Berührung, Sinnlichkeit, Erotik, das scheint diese dritte Ehe für Sandras Vater auch bedeutet zu haben – und diese Sinnlichkeit wird auch für die von Léa Seydoux gespielte Sandra zunehmende Rettung vor dem Verlust, der immer währenden Care-Arbeit als alleinerziehende Mutter und kümmernde Tochter. Und auch im Job als Dolmetscherin und Übersetzerin geht es nicht nur um europäische Kongresse, sondern auch um die letzten Überlebenden in der Normandie. Verlust, wohin ihr trauriges Auge auch blickt.

Eine kurze Begegnung im Park mit einem alten Freund wird ihr Anker – und das, obwohl Clément (Melvil Poupaud) verheiratet ist, ebenfalls Kinder hat. Nicht stürmisch, sondern sehenden Auges und mit der nüchternen Haltung zweier durch ihre Professionen analytisch Beschauender gehen die beide eine Affäre ein, deren dann aufkeimende Leidenschaft beide überrascht. Die Besuche bei der Wohnungsauflösung des Vaters, beim Bezug des Heimes werden so aushaltbar, auch wenn der Vater seine Überdrüssigkeit deutlich artikuliert, sie in poetischen Worten bittet, ihn doch einschlafen zu lassen. Versprich mir, sagt sie zu Clément und nimmt ihm damit den absoluten Liebesschwur ab, „versprich mir, dass du mir beim Sterben hilfst, wenn die Krankheit bei mir auch diagnostiziert wird“.

Nach BERGMAN ISLAND ist Mia Hansen-Loves AN EINEM SCHÖNEN MORGEN ein ungewohnter Exkurs ins naturalistisch anmutende Sozialdrama (laut vieler Kritiker*innen, die auch ihre früheren Filme besser kennen, eher ein Exkurs ins schon Bekannte), das aber natürlich seine philosphischen, bürgerlichen Fundamente nicht gänzlich verlässt. „Dardenne by way of Hansen-Løve“ könnte man wohl sagen. Aber das geerdete Terrain jenseits der Filmbubble tut dem Film gut, die Altersheimszenen sind präzise, der Verlust des innigen Vater-Tochter-Verhältnisses überzeugend. Und da ist es auch nicht so schlimm, dass das harmonische Patchworkfamilienkonstrukt aus zwei Ex-Ehefrauen mit neuen Partnern sowie Kindern fast schon ein bisschen zu anheimelnd und idyllisch wirkt.

Es ist außerdem erfrischend, Léa Seydoux mal jenseits der schon abgegriffenen Sexsymbol-Besetzung der letzten Jahre in so einer vielseitigen Charakterrolle zu sehen. Sie und Poupaud haben eine wunderbare Dynamik: das langsame Verlieben, die Affärendynamiken der ständigen Trennung und Wiedervereinigung nebst dem doch der erotischen Begegnung innewohnenden Pragmatismus, einfach einen anderen Körper spüren zu wollen, damit man weiß, dass man selbst existiert – alles wirkt glaubwürdig, nachvollziehbar, berührend. Genauso wie das langsame Abschiednehmen vom geliebten Vater. Bloß das allzu abschließende romantische i-Tüpfelchen am Schluss ist ein wenig überzogen, liegt doch in der Beschreibung der Vergänglichkeit die eigentliche Kraft von AN EINEM SCHÖNEN MORGEN.

Marie Ketzscher

AN EINEM SCHÖNEN MORGEN von Mia Hansen-Løve, Darsteller*innen: Léa Seydoux, Melvil Poupaud, Pascal Greggory, Nicole Garcia, u.a.; Kinostart: 8. Dezember 2022