Anmerkungen zu NAPOLEON von Ridley Scott
Die Geschichte der Menschheit wurde früher oft als die Geschichte der so genannten „Großen Männer“ missverstanden. Herausragende Persönlichkeiten, manche anbetungswürdige Lichtgestalten, andere besonders verabscheuungswürdige Wüteriche, die aber die Zeiten und die Gesellschaften, in denen sie lebten, durch ihre Taten, Schriften oder Errungenschaften überragten, mochten diese nun die nachfolgenden Generationen zu ebensolch „großen Leistungen“ inspirieren, sie moralisch stärken oder ihnen als Warnung vor den Abgründen der menschlichen Existenz dienen. Auch das Kino hat diesen „großen Männern“ immer viel Raum gegeben.
Könige, Feldherren, Eroberer, Forscher, Künstler, Theologen, Revolutionäre, Mörder – wer in den Geschichtsbüchern eine Fußnote hinterlassen hat, ist noch immer für eine filmische Würdigung gut gewesen. Hin und wieder galt das sogar für „große Frauen“. Nun hat Ridley Scott ein Epos über die wahrscheinlich prägendste politische Gestalt des 19. Jahrhunderts vorgelegt: Napoleon, Kaiser der Franzosen und außerhalb seiner Heimat wohl meistgehasste, wiewohl auch bewunderte Person ihrer Zeit.
Als moderner Historiker weiß man freilich, dass auch die „großen Männer“ letztlich Kinder ihrer Zeit waren und oft nur durch das zufällige Zusammenwirken unterschiedlichster Ereignisse und Strömungen der Zeitgeschichte nach oben gespült wurden und jene wirkmächtigen oder auch verhängnisvollen Kräfte freisetzen konnten, die von ihren Zeitgenossen verehrt oder gefürchtet wurden.
Das gilt auch für den relativ unbedeutendem korsischen Kleinadel entstammenden Napoleon Bonaparte, dessen militärische Laufbahn zwar durch sein unzweifelhaftes taktisches Talent und einen gewissen Hang zum Draufgängertum befeuert wurde, dessen politischer Aufstieg an die Spitze des Staates und schließlich Europas aber ohne die verwirrenden und verschlungenen Ereignisse der französischen Revolution gänzlich undenkbar gewesen wären. Ein modernes filmisches Epos über eine fraglos faszinierende Figur wie Napoleon sollte diesem Umstand Rechnung tragen und man kann nicht sagen, dass Scott nicht zumindest darum bemüht ist, seinen Helden vom Sockel zu stoßen und auf ein menschliches Maß zu stutzen.
Nun ist das mit Ridley Scott aber immer so eine Sache. Der mittlerweile 86 Jahre alte Regisseur hat in seiner langen Karriere neben zahlreichen Werbespots, Kurzfilmen und einigen Fernsehproduktionen bislang 28 Kinofilme inszeniert. Es finden sich darunter von Fans und Kritikern bewunderte Meisterwerke (ALIEN, BLADE RUNNER oder THELMA & LOUISE), aber auch ein paar echte Gurken (G.I. JANE, HANNIBAL, EXODUS: GODS AND KINGS oder zuletzt HOUSE OF GUCCI). NAPOLEON scheint sich, zumindest in der Kinoversion, zu letzter Gruppe zu gesellen. Aber der Reihe nach.
Der Film beginnt im Jahr 1793 mit der Hinrichtung der vormaligen Königin Marie Antoinette. Die französische Revolution erlebt den Höhepunkt des Terreur, der jakobinischen Schreckensherrschaft unter Robespierre, als der junge Bonaparte (Joaquin Phoenix) zum Kommandanten befördert und mit der Eroberung des britischen Brückenkopfes Toulon beauftragt wird. Der Erfolg sichert seinen weiteren Aufstieg. Als General versucht er sich an der Eroberung Ägyptens, beteiligt sich nach seiner Rückkehr am Staatsstreich gegen das Direktorium (die damalige, zwischenzeitliche Revolutionsregierung), erhebt sich zum Kaiser der Franzosen, siegt bei Austerlitz, marschiert nach Moskau, wird gestürzt, kehrt zurück und erleidet die Niederlage bei Waterloo.
Diese Aufzählung spiegelt nicht etwa willkürlich Ereignisse im Film, sondern entspricht tatsächlich seinem Plot. Ohne jeglichen Sinn für Struktur hastet Scotts Film wie eine TV-Dokufiction chronologisch und doch zusammenhanglos durch einzelne Stationen in Napoleons Karriere. Dass der Film sich dabei historisch viel Freiheiten nimmt – geschenkt. NAPOLEON ist kein Dokumentarfilm. Aber Motivationen, Strategien, irgendwelche Erklärungen, warum sein Held zu irgendeinem Zeitpunkt im Film genauso und nicht anders agiert, lässt Scott einfach weg. Wer sich nicht mit den Ereignissen und Zusammenhängen der Revolution und des frühen 19. Jahrhunderts auskennt, wird nach diesem Film nicht schlauer sein.
Zusammengehalten wird das Ganze mehr oder weniger durch die zweite große Erzählung des Films, die sich der Liebe Napoleons zu seiner Frau Joséphine de Beauharnais (unterbeschäftigt: Vanessa Kirby) widmet. Die Beziehung der beiden ist von einem merkwürdigen Abhängigkeitsverhältnis geprägt, das dem Film durchaus etwas Würze geben könnte. Doch auch dieser Teil des Films ist inkonsistent und nicht in sich schlüssig.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, Scott wisse selbst nicht, was für ein Film NAPOLEON eigentlich sein soll – ein klassisches Epos über einen der so genannten „großen Männer“ oder eher eine Parodie darauf. Mal gibt Phoenix den Kaiser in seiner durchaus engagierten Performance als aufgeblasenen Popanz seiner ganzen Lächerlichkeit preis, dann muss er ihm wieder einen Rest Würde verleihen. Im Detail haben die einzelnen Szenen durchaus Potential, sie passen nur nicht so recht zusammen. Und so steht am Ende die frustrierende Erkenntnis, dass NAPOLEON das Zeug hätte, wenigstens ein guter Film zu sein. Jedoch nicht in der vorliegenden Form.
Was bleibt, sind die Schauwerte. Der Film sieht natürlich prächtig aus. Dekors und Kostüme sind von imponierender Stofflichkeit. Ridley Scott weiß, wie und wo man eine Kamera zu stationieren hat und ist im Umgang mit historischen Themen vertraut. Erst vor zwei Jahren hat er mit dem Mittelalterspektakel THE LAST DUEL ein beeindruckendes Drama vorgelegt und schon sein Kinodebüt THE DUELLISTS (1977) überzeugte mit einer atmosphärisch dichten Parabel aus der Welt napoleonischer Offiziere.
Bei der Inszenierung grandioser Schlachtsequenzen macht dem Altmeister sowieso niemand etwas vor. Vor allem die Schlacht bei Austerlitz ist ein Paradebeispiel für Scotts Fähigkeit, die Spannung des Publikums zu steigern und dann in einen furiosen Bilderrausch münden zu lassen. Was dieser Sequenz wiederum fehlt, ist die nachvollziehbare Darstellung des taktischen Genies Napoleons, die eine eigentlich unterlegenen Position in einen derart beeindruckenden und totalen Sieg ummünzen konnte.
Eine Hoffnung bleibt dem Film allerdings noch. In wenigen Wochen wird NAPOLEON auf der Streaming Plattform AppleTV+ in einem vierstündigen Director’s Cut veröffentlicht und die Erfahrung zeigt, das Ridley Scott-Filme in der Langversion noch einmal ganz neu gelesen werden können. Mit 90 zusätzlichen Filmminuten könnte sich NAPOLEON vielleicht doch noch zu einem in sich schlüssigen Ganzen fügen. Das galt z.B. für Scotts Kreuzfahrer-Epos KINGDOM OF HEAVEN (2005), der in der Kinoversion ein narrativer Reinfall war, in der längeren Version aber an Format gewann. Auch Scotts viel gelobter Science-Fiction-Klassiker BLADE RUNNER kam 1982 als seltsam verstümmelte Detektiv-Story in die Kinos. Erst der Director’s Cut von 1991 gab dem Film seine existenzialistische Tiefe. Man kann NAPOLEON nur wünschen, dass er in der längeren Version in neuem Glanz erstrahlt. Die Kinoversion bleibt unbefriedigender Murks.
Mögliche Oscarnominierungen: Kostüme, Ausstattung, Ton und Visuelle Effekte.
NAPOLEON, Regie: Ridley Scott, Darsteller_innen: Joaquin Phoenix, Vanessa Kirby, Tahar Rahim, Paul Rhys, Ben Miles, Edouard Philipponnat, Rupert Everett u.v.a.
* Wer mehr über das Leben und die Laufbahn Napoleons erfahren will, sei auf die Arbeiten des polnisch-britischen Historikers Adam Zamoyski verwiesen, dessen opulenten, detailreichen Schilderungen der napoleonischen Kriege deutlich mehr zum Verständnis jener Epoche beitragen.