ANORA von Sean Baker


ANORA © Drew Daniels
ANORA © Drew Daniels

Anora nennt sich selbst lieber Ani und verdient ihren Lebensunterhalt, wie so viele Protagonist_innen in den Filmen Sean Bakers, mit Sex-Arbeit. Sie ist Stripperin in einem bekannten New Yorker Etablissement. Ani beherrscht die Kunst der Verführung, bewegt sich athletisch und hin und wieder, wenn der Kunde ihr gefällt und der Preis stimmt, ist sie auch für mehr zu haben.

Auftritt: Ivan, genannt Vanya. Der junge, gutaussehende, aber kaum volljährige Mann (Mark Eydelshteyn wird im Internet schon als „russischer Timothée Chalamet“ gehandelt) hat einen Narren an Ani gefressen. Als Nachfahrin russischer Einwanderer kann sie ihm auch in seiner Muttersprache folgen. Er bestellt sie in sein Anwesen – einer protzigen Villa, die bei aller zur Schau gestellten Opulenz den schlechten Geschmack seines Besitzers kaum leugnen kann. Ani – immer kontrolliert jede Situation und jede Möglichkeit abschätzend – schlägt zu.

Vanya entpuppt sich als Goldader, bucht Ani für ganze Nächte, lädt sie zu ausgelassenen Parties ein und verbringt mit ihr eine ganze Woche in Las Vegas – gegen Bezahlung, versteht sich. Geld ist für Vanya offensichtlich im Überfluss vorhanden. Als er um ihre Hand bittet, muss sie dennoch kurz inne halten. Ist das wirklich Liebe? Die Zeit mit Vanya macht Spaß, doch geht er keiner nennenswerten Tätigkeit nach. Er lebt vom Geld seiner steinreichen Oligarchen-Eltern und hat immer nur das nächste Vergnügen im Sinn. Wohlstandsverwahrlosung im Gewand eines charmanten Poster Boys.

Vanya ist in Anis Augen aber auch ein schwacher, leicht manipulierbarer Junge und vor allem die einmalige Chance, ihrer prekären Situation zu entkommen. Er handelt im Übrigen gar nicht so uneigennützig. Er bekommt mit Ani nicht nur eine ausgesprochen attraktive und sexuell aktive Frau, sondern auch die Green Card und damit die Möglichkeit, nicht in seine russische Heimat und zu seinen verhassten Eltern zurückkehren zu müssen. Romantik im 21. Jahrhundert.

Es kommt natürlich, wie es kommen muss: Vanyas Eltern sind über seine Ehe mit einer Prostituierten alles andere als begeistert und wollen diese um jeden Preis annullieren lassen. Auf den Exzess des ersten Akts folgt die Ernüchterung des Zweiten. Da ANORA als filmischer Triptychon angelegt ist, erleben wir flankierend im ersten und im dritten Akt jeweils Anis Beziehung zu einem jungen Mann. Die Stimmung – und die Männer – könnten dabei kaum unterschiedlicher sein. Der zentrale, zweite Akt aber hat ein umfangreicheres Personal und changiert zwischen Drama und grotesker Komödie.

Neben Ani und Vanya – der kurz darauf verschwindet, um später resignierend, und dabei seine ganze Verantwortungslosigkeit zur Schau stellend, zurückzukehren – tritt hier zunächst ein armenisches Unterwelt-Trio auf. Der orthodoxe Priester Toros und sein Handlanger Garnick sollen eigentlich für Vanyas Eltern auf deren Sprössling achten, ihn vor größeren Dummheiten bewahren und müssen Vanya nun überreden, die Ehe mit Ani rückgängig machen zu lassen. Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, haben sie Igor dabei, einen jungen wortkargen Mann, der offenbar die Rolle des Schlägers übernehmen soll.

Beschleicht den Zuschauer bis hierhin der Verdacht, der Film bediene allzu fahrlässig gängige Klischees über steinreiche Russen, ihre jeden Bezug zur Realität verlustig gegangenen Kinder und brutale Handlanger, die keine Widerworte dulden, stellt Baker nun alles auf den Kopf. Denn Toros und seine Männer spielen zwar zunächst die harten Kerle, brüllen, drohen und knebeln Ani sogar zwischenzeitlich. Doch bald stellt sich heraus, dass sie keine hartgesottenen Killer sind und eiskalte Gewalt nicht zu ihren Stärken gehört. Sie sind Kleinganoven, die eine für sie unangenehme Situation beenden wollen und zumindest im Ansatz Verständnis für Anis Lage aufbringen. An die große Liebe zwischen Ani und Vanya glauben sie ebensowenig wie Ani selbst. Dafür kennen sie Vanya zu gut. Doch Ani hat Qualitäten, die sie bei der jungen und zierlichen Frau nicht erwartet hätten. Im Unterschied zu Vanya ist sie bereit, für diese Ehe zu kämpfen – auch gegen dessen bald eingeflogenen Eltern. Hier schlagen die Klischees, vor allem bei der neureichen Oligarchen-Mama, dann aber doch heftig zu.

Mit ANORA widmet sich Sean Baker, der vor neun Jahren mit TANGERINE L.A. bekannt wurde und mit THE FLORIDA PROJECT (2017) und RED ROCKET (2021) zwei weitere viel beachtete Werke vorgelegt hat, einmal mehr der amerikanischen Unterschicht mit speziellen Augenmerk auf die Sex-Industrie. Bakers Filme werden bevölkert von Kleinkriminellen, Drogenabhängigen, Prostituierten, Pornodarsteller_innen, Striperinnen. Der unterschwellige Humor, der schon seinen früheren Filmen zu eigen war, bricht hier bisweilen brachial hervor. Immer wieder gelingt es Baker eine ohnehin absurde Situation noch ins Groteske zu steigern. Doch auch die melancholische Grundstimmung seiner früheren Filme kommt zum Tragen. Am Ende ist ANORA, bei aller Lächerlichkeit der handelnden Figuren, doch eine traurige Geschichte über scheiternde Träume und Hoffnungen.

Unterstützt wird er dabei von einem fantastisch aufspielenden Ensemble an (bisherigen) No Names. Zumindest für Mikey Madison, die zuvor in kleineren Rollen und in TV-Serien zu sehen war – ein besonders blutiger Auftritt dürfte noch aus ONCE UPON A TIME …IN HOLLYWOOD (2019) in Erinnerung sein – ist ANORA der große Durchbruch. In einer furchtlosen Performance spielt sie Anis Stärken aus, nicht ohne ihre Verletzlichkeit immer wieder aufblitzen zu lassen. Man folgt dieser jungen Heldin bedingungslos. Sie ist das pulsierende Herz des Films. Erdung erfährt die Geschichte aber über Igor, mit stoischem Gleichmut gespielt von Yura Borisov, der vor drei Jahren in dem finnischen Drama ABTEIL NR. 6 zu sehen war. Igor lässt jede Schmähung, jede Beleidigung Anis an sich abperlen. Er kann sie nur zu gut verstehen und wird zu ihrem heimlichen, zunächst aber abgelehnten Verbündeten. Karren Karagulian und Vache Tovmasyan geben als Toros und Garnick ein rührend-komisches Gaunerduo, an dem man sich kaum satt sehen kann.

Aber eben nur kaum, denn einige Schwächen hat ANORA dann doch und die größte ist seine Länge. Auch wenn der Film über seine 2 Stunden 19 Minuten Laufzeit nie langweilt, wirkt er gerade im zweiten Akt streckenweise redundant, mäandert die Handlung – auch wieder typisch Baker. Hier hätte dem Film eine straffende Hand gut getan und einige Minuten gekürzt werden können. Dass dennoch keine Langeweile eintritt, liegt an der zum Teil atemlosen Inszenierung, die weniger an PRETTY WOMAN (1990) als an das Kino der Safdie Brothers erinnert. Am Ende ist ANORA ein gelungener, wenn auch nicht perfekter Film. Denn im dritten Akt, kurz vor Schluss und obwohl Baker nun das Tempo fast komplett rausnimmt, läuft der Film nochmal zur Höchstform auf und liefert einen emotionalen Punch, der das Zeug hat, den Film auf das Niveau eines künftigen Klassikers zu heben.

Bei den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes kristallisierte sich ANORA schon frühzeitig als allgemeiner Konsenskandidat für den Hauptpreis heraus. Als 18. amerikanische Produktion gewann ANORA die Goldene Palme. Wieder einmal war Cannes ein gutes Terrain für das amerikanische Independentkino und dem darf Sean Baker immer noch zugerechnet werden, auch wenn ANORA, Dank des Erfolgs in Cannes, wohl ein größeres Publikum erreichen dürfte, als seine bisherigen Filme.

Mögliche Oscarnominierungen: Bester Film, Regie, Drehbuch, Hauptdarstellerin, Nebendarsteller, Schnitt.

Thomas Heil

ANORA, Regie: Sean Baker, Darsteller_innen: Mikey Madison, Mark Eidelshtein, Yura Borisov, Karren Karagulian, Vache Tovmasyan u.v.a.