ASTEROID CITY von Wes Anderson


ASTEROID CITY © 2022 Pop. 87 Productions LLC / UNIVERSAL STUDIOS

SciFi-Western à la Anderson

Das Jahr 1955 irgendwo im Südwesten der USA – Asteroid City ist kleiner als jede Kleinstadt und dünner besiedelt als jedes Dorf. Eine Schnellstraße und eine Zugstrecke führen durch den Ort. Es gibt ein Motel, ein Diner, eine Autowerkstatt und einen Krater, den vor Tausenden von Jahren ein Meteorit hinterlassen hat (daher der Name Asteroid). In diesem verschlafenen Städtchen versammelt sich plötzlich ein Ensemble an Menschen: Hochbegabte Teenager und ihre Eltern, ein Hollywoodstar, ein Kriegsfotograf, eine Schulklasse und eine Gruppe Country-Musiker. Grund dafür sind verpasste Busse, kaputte Autos und allem voran die Junior Stargazer Convention. Denn neben Schnellstraße, Bahnverbindung, Motel, Diner und Meteoritenkrater gibt es in Asteroid City außerdem ein astronomisches Forschungszentrum.

Das ist aber lediglich einer von mehreren Handlungssträngen: Ein Theaterstück, durch welches uns Bryan Cranston in Manier einer 1950er Fernsehsondersendung führt (natürlich in Schwarz-Weiß).

Pfirsiche, Pontiacs und nukleare Sprengköpfe

Das Örtchen Asteroid City liegt inmitten der Wüste und ist von jenen roten Felsformationen umgeben, die so vielen klassischen Hollywood-Western als Setting dienten. Das ist kein Zufall, denn Anderson widmet sich hier erstmalig dem Western und seinem engen Verwandten, dem Sci-Fi-Genre. Das ist weniger weit hergeholt, als es zunächst den Anschein haben mag, denn die Weltraumfahrenden in Science-Fiction-Filmen „entdecken“ und „besiedeln“ (aka kolonialisieren) das unendlich weite Weltall, wie es vor ihnen im amerikanischen Westen die Cowboys taten.

Nach zehn Filmen und mehr als zwanzig Jahren in Hollywood hat Wes Anderson im Grunde seinen eigenen Genremix erfunden – irgendwo zwischen Familiendrama, romantischer Komödie, Kostüm- und Animationsfilm. Diesem Mix fügt er mit ASTEROID CITY jetzt Elemente aus Western und Sci-Fi hinzu.

Anderson-Connaisseure kommen in ASTEROID CITY problemlos auf ihren Geschmack: Die Bildgestaltung ist so streng geometrisch wie eh und je, die knallbunten Farben hüpfen förmlich von der Leinwand und die Dialoge sind so unrealistisch eloquent wie unterhaltsam. Es gibt Stop-Motion-Sequenzen, Puppenspiel und eine kurze Musical-Einlage (kein Scherz). Und als wäre das noch nicht genug, wechselt das Bildformat zwischen dem gegenwärtig üblichen Breitbild (2,39:1) und dem Academy-Format (1,37:1), wie es die klassischen Hollywood-Filme verwendeten. Die Cast-Liste ist so lang wie illuster. Hier treffen alte Anderson-Hasen, wie Jason Schwartzman, Tilda Swinton, Willem Dafoe und Adrien Brody auf Anderson-Neulinge wie Margot Robbie, Steve Carrell und Tom Hanks.

Wir fassen zusammen: Ein riesiges Star-besetztes Ensemblecast, ein Theaterstück im Film. Sowohl Schwarz-Weiß-Sequenzen als auch knallbunte Farben, verschiedene Filmgenres und Bildformate, direkte Ansprache des Publikums, Stop Motion, Musical… ist das zu viel? Nein! ASTEROID CITY ist ein filmisches Wimmelbild. So viele Witze spielen sich im Hintergrund ab, so viele Kleinigkeiten gibt es in jeder Einstellung zu bestaunen, dass Langeweile an keiner Stelle der über zwei Stunden Laufzeit aufkommt. Nur ein Beispiel: Zu Beginn des Films rattert ein Transportzug durch die Wüste. Befördert werden Grapefruits, Avocados, Pfirsiche, John Deer Trecker, Pontiacs und ein nuklearer Sprengkopf – die USA auf den Punkt gebracht.

Während Wes Andersons Vorgängerfilm THE FRENCH DISPATCH (2021, USA) sich stellenweise in Filmreferenzen, Nostalgie und skurrilen Handlungssträngen verhedderte, verwendet ASTEROID CITY die gleichen Muster, ohne dabei den Faden zu verlieren.

Strategien für die Bewältigung von Gefühlen

Wes Anderson mag bekannt sein für seinen Stil –  die ungewöhnlich geometrische Bildgestaltung, die absichtlich gestelzten Dialogen und die schrulligen Figuren. Gerne wird er auch dafür kritisiert, dass in seinen Filmen Form über Inhalt geht. Was THE ROYAL TENENBAUMS (USA, 2001), THE DARJEELING LIMITED (USA, 2007) oder THE GRAND BUDAPEST HOTEL (USA, 2014) zu modernen Klassikern macht, ist allerdings ihr emotionaler Kern. Stets geht um Figuren, die versuchen, mit Selbstreflexion und gutbürgerlicher Bildung ihre Gefühle entweder wegzuerklären oder zu kaschieren. Es geht um Eltern, die ihren Kindern naturwissenschaftliche Fakten, Freudsche Psychoanalyse und kreative Ausdrucksmöglichkeiten mit auf den Weg geben, Zuneigung aber nur schwer zeigen können. Es geht um emotionale Hilflosigkeit und Trauer. Die Mischung aus Tragik und Komik entsteht gerade dadurch, dass die Figuren übertrieben selbstreflektiert und ihre Handlungen absurd menschlich sind, während die Mise-en-scène enorm kontrolliert daherkommt.

Es ist verblüffend, wie tief Andersons Filme greifen, wie sehr sie berühren. Denn theoretisch sollten gestelzte Dialoge, offensichtlich kulissenhafte Sets und Theaterinszenierungen sich entweder falsch anfühlen oder verwirrend sein. Eigentlich müssten sie im Sinne des Brechtschen Verfremdungseffekts den emotionalen Sog der Geschichte durchbrechen. In ASTEROID CITY vertiefen sie ihn.

Grund dafür ist einerseits, dass Anderson anstatt wertend zu erzählen, Mitgefühl für seine Figuren hat. Emotionen sind verwirrend. Der Wunsch, sie ein für alle Mal verstehen, bändigen oder ordnen zu können mehr als nachvollziehbar. In all der Komik und Tragik seiner Filme behandelt Wes Anderson seine Figuren stets behutsam und liebevoll.

Andererseits ist das, womit Andersons Figuren hadern – nämlich Gefühle und ihre merkwürdigen Ausdrucksformen – gleichzeitig das, was seine Filme, was Kunst im Allgemeinen ausmacht. Denn zunächst einmal spüren wir Kunst, spüren wir die Tragik und die Komik in ASTEROID CITY. Es mag keinen emotionalen Lifehack geben, der uns von Trauer befreit, was aber okay ist. Denn ohne das Kaleidoskop an menschlichen Erfahrungen, ohne unseren skurrilen Bewältigungsstrategien wären Filme, Musik, Gedichte und Gemälde bedeutungslos. ASTEROID CITY bringt das sehr schön auf den Punkt, wenn im Abspann ein mechanischer Wüstenvogel zögerlich-unbeschwert über die Straße tänzelt und das Ganze so berührend ist, dass man Tränen in den Augen hat. Absurd. Und ganz großes Kino.