„The Grandmaster“ von Wong Kar-Wai


"The Grandmaster": Ein passionierter Kämpfer ohne Wille zur Macht. Foto: Berlinale

"The Grandmaster": Ein passionierter Kämpfer ohne Wille zur Macht. Foto: Berlinale

Dienst und Tradition

1936, Forshan in China. Es regnet. Ein Mann mit weißem Hut ist umgeben von etwa 30 Männern ohne Hut. Er ist bereit und es fliegen die Fäuste. Die folgende, herausragend gut choreografierte Kampfszene ist der Auftakt für einen Machtkampf. Gong Yutian stellt die Souveränitätsfrage. Er möchte die Kung Fu-Schulen des Nordens mit denen Südchinas vereinen. Sein Herausforderer soll der Mann mit weißem Hut werden – Ip Man (Tony Leung Chiu-Wai). Zum Zeitpunkt der Herausforderung ist Ip Man 40 Jahre alt. Er ist Privatier und konnte sich als Vorversorgter den Luxus leisten, sich sein Leben lang mit Kung Fu auseinanderzusetzen. Er ist ein passionierter Kämpfer, nur fehlt ihm der Wille zur Macht. Allein in der Ausgangssituation merkt man, dass Wong Kar-Wai hier nicht den herkömmlichen Martial Art-Schinken inszeniert. Das profane Ich-räche-meinen-Meister-Vehikel geht selten länger als 80 Minuten. Inhaltlich vermitteln diese Filme recht einfache Moralvorstellungen, die im wesentlichen aus den Gegensätzen Gut und Böse bestehen. Diese Spezialisten der Kampfkunst eliminieren alles Übel der Welt und setzen sich derart für das Gute ein, dass sie zu Helden unserer Imagination werden. Die Helden leben ausserhalb der Wirklichkeit, und natürlich sind die Personifizierungen allen Übels ebenso holzschnittartig gezeichnet. Die Meister auf beiden Seiten sind so gegensätzlich wie Feuer und Wasser. In erdbebenähnlichen Schlachten, die sie sich liefern, toben sie ihre Konflikte aus. Natürlich gewinnt am Ende immer das Gute, während das Schlechte für immer verdammt ist. Das Ende ist so gestaltet, wie es dem ästetischen Gusto entspricht.

Das ästetische Gusto der „Grandmasters“ ist ein dekadentes. Mit jeder Einstellung mehr wird einem deutlich, dass Kung Fu keine Sportart war, sondern ein Machtinstrument. Nur ist dieses Instrument obsolet. Die Zeit holte es ein. Während Ip Man sich von den drei Meistern des Südens prüfen lässt, versucht Gong Yutian im Norden seine Nachfolge zu regeln. Seine Familienerbe soll seine Tochter Gong Er (Zhang Ziyi) antreten, die Verwaltung der Schulen Ma San (Chang Chen).  Ip Man trifft sich insgeheim mit Gong Er. Eine Machtdemonstration soll Schlimmeres verhindern. Dabei kommt es nicht zum Kampf auf Leben und Tod, sondern zu einer Art kämpfenden Tanz. Verloren hat dabei derjenige, der ein Einrichtungsgegenstand zerstört. Ip-Man verliert und zieht sich respektvoll zurück. Dieser Kampf, der den Übergang von Macht als Ritus gestaltet, fehlt in unserem Kulturkreis vollständig. Ein Rahmen, der beiden Individuen die Möglichkeit einräumt, sich der eigenen Berufung, den eigenen Wünschen, der Pflicht, der Wahrheit und der Zukunft zu versichern, löst das Problem komplizierter Machtkämpfe, die ansonsten mit großer Wahrscheinlichkeit in sinnlosem Blutvergießen enden würden. Dabei knüpfen Ip Man und Gong Er Bande, doch eine weitere Planung findet nicht mehr statt, denn die Japaner besetzen China.

Zwei Jahre darauf lebt Ip Man völlig verarmt auf einem Dachboden. Ma San ist ein Kollaborateur. Gong Er verlangt für diesen Verrat seinen Kopf. Den letzten Wunsch ihres Vaters nach Frieden weist sie zurück. Gerechtigkeit stützt sich in ihren Augen immer auf Gewalt, und diese Gewalt muss einen Ort haben, der sich präzise angeben lässt. Es soll ein Bahnhof werden und nach einem brutalem Kampf, der beide zeichnet, sind die Fronten geklärt. Für das Verständis sollte man wissen, dass die traditionelle chinesische Gesellschaft in vier soziale Gruppen geteilt ist : Regierungsbeamte, Gelehrte, Ritter und Bauern. Ritter glauben an Brüderschaft, und in dieser Eigenschaft vertreten sie alle vier soziale Schichten. Ihre Auffassung von Moral und anderen Tugenden wird von der ganzen Gesellschaft geteilt. Allerdings leben Ritter als soziale Gruppe zumeist ausserhalb der Gesellschaft. Wong Kar-Wai schafft es diesen Widerspruch auch für ein westliches Publikum verständlich zu machen. Und nachdem er das geschafft hat, ist dieses Wertesystem auch schon von den weltpolitischen Verhältnissen überholt. Die Protagonisten, insbesondere Gong Er, erleben die Umwelzung der Verhältnisse als Schmach, die nicht nach außen dringen darf und sich in Folge dessen als Angst und Gefühl für Tradition gegen das Subjekt selbst wenden. Angekommen im Hong Kong der 1950er müssen sich alle mit einem höchstens mittelmäßigen Dasein abfinden.

Macht ist im Abendland transzendent, in China hingegen immanent. Sie übt den Druck aller gegen jeden einzelnen aus, nicht fassbar, schweigsam und unentrinnbar legt sie sich wie die Atmosphäre über alles. Das abendländische Subjekt durfte sich schon lange vor der Aufklärung in Widerstand üben. Das Chinesische begreift Gerechtigkeit nur als euphorischen Zustand, als Gleichgewicht auseinanderstrebender Kräfte. Jegliche individuelle Anmaßung wird zurückgewiesen. Im Dienste der Tradition konnte Kung Fu so der Nachwelt erhalten werden und Wong Kar-Wai ist mit „The Grandmaster“ ein ernsthafter und ernstzunehmender Film über Kampfkunst gelungen.

Joris J.

„The Grandmaster“: Regie: Wong Kar Wai; Drehbuch: Haofeng Xu, Wong Kar Wai, Jingzhi Zou, Darsteller: Tony Leung Chiu Wai, Ziyi Zhang, Chen Chang, Cung Le, Hye-kyo Song, Kinostart: 27.Juni 2013