„Climax“ von Gaspar Noé


Ob nun Wunderkind oder Enfant terrible: Gaspar Noé zelebriert mit jedem Film konsequent und mit einer kaum zu verheimlichenden Lust den Tabubruch. Foto: Alamode Film

Tanz am Rande des Abgrunds

Zu Beginn sehen wir eine blutige Frauengestalt aus der Vogelperspektive, die durch den knietiefen Schnee stapft, während die Cinemascope-Kamera über ihr kreist. Eigentlich sollte bereits in diesem Moment klar sein, dass ein exzessiver Höllentrip hinter ihr liegt. Schließlich befinden wir uns in „Climax“, dem neuen Film von Frankreichs Enfant terrible Gaspar Noé. Eine Schrifteinblendung weist darauf hin, dass es sich um eine wahre Geschichte im Winter 1996 handeln soll. Dass so eine Angabe mit Vorsicht zu genießen ist, liegt auf der Hand. Erst recht bei einem manipulativen Provokateur wie Noé. Wie es zu diesem dramatischen Abschluss kommen konnte, wird für uns über die nächsten 90 Minuten erfahrbar gemacht.

21 junge Tänzerinnen und Tänzer wollen in Frankreich und den USA auf Tournee gehen. Am Abend vor der Abreise versammeln sie sich in einer Halle, die wie eine Kombination aus Ballsaal und Lagerraum anmutet. Sie werden noch einmal zusammen tanzen und feiern, bevor sie mit ihrem ambitionierten Projekt aufbrechen. In Videointerviews auf einem Röhrenfernseher stellen sich die Teilnehmer vor. Daneben stapeln sich abgenutzte VHS-Tapes, zahlreiche berühmt-berüchtigte Midnight Movies sind darunter: Andrzej Żuławskis „Possession“ (1981), Dario Argentos „Suspiria“ (1977) oder David Lynchs „Eraserhead“ (1977). Diese wie beiläufig eingestreuten Verweise sind ganz offensichtlich gezielt für uns platziert worden. In ihren Vorstellungsgesprächen erzählen die Figuren über ihre Tanzleidenschaften, Drogenerfahrungen und Gewalterlebnisse. Dann werden wir mit einer rauschhaften Tanzchoreographie in den Bann gezogen und die unabwendbare Spirale in den Abgrund nimmt ihren Lauf.

In seinem fünften Spielfilm stellt Gaspar Noé erneut unter Beweis, dass er einer der wenigen zeitgenössischen Regisseure mit einer unverwechselbaren Handschrift ist. Schließlich hat er das Durchstoßen von etablierten Erzählmustern und Konventionen zu seinem ganz eigenen Stilmittel gemacht. Wilde Gewaltexzesse, eine verdrehte Chronologie, bei welcher der Abspann des Films zu Beginn gezeigt wird, flackernde Credit-Sequenzen mit einem Wirrwarr aus Logos und Schriftarten und explizite Sexszenen verbinden sich zu einem hyperrealen Rausch, festgehalten in den vollkommen entfesselten Bildern seines Stammkameramanns Benoît Debie.

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