„Climax“ von Gaspar Noé



Es ist eine Ästhetik, die Noé mit jedem Film konsequent und mit einer kaum zu verheimlichenden Lust am Tabubruch weiterentwickelt hat. Seine Inspirationen stammen aus Horror-, Exploitation-, Drogen- und Rape-and-Revenge-Filmen oder Arthouse-Schockern wie Pier Paolo Pasolinis „Die 120 Tage von Sodom“. Die Abgründe der Filmgeschichte werden dabei kondensiert, ohne sie direkt zu zitieren. Ziel ist die konsequente und kalkulierte Grenzüberschreitung. Man könnte dies als „style over substance“ bezeichnen. Doch dieser Stil ist gerade das, was die unbändige Faszination von Noés auf Film gebannten (Alb)träumen ausmacht. Damit entziehen seine Werke sich zwangsläufig einer herkömmlichen filmkritischen Analyse. Sie sind vielmehr vergleichbar mit den provokativen Videoclip-Experimenten eines Chris Cunningham auf Spielfilmlänge.

In „Climax“ lauert die Eskalation diesmal in einer Schale Sangria, von der die Tänzer gemeinsam trinken. Erst feiern und flirten sie, diskutieren über ihre Sexabenteuer, Wünsche und Fantasien. Doch nach und nach wird die Stimmung verwirrter, unzusammenhängender und verwandelt sich schließlich in ein psychotischen Trip zwischen Konflikten, Gewalttaten und Exzessen. Wurde da etwas ins Getränk gemischt? Der erwartete Schockeffekt trifft jedoch nicht so hart ins Gesicht, wie der Feuerlöscher in der berüchtigten Sequenz zu Beginn von „Irreversibel“ (2002), sondern nimmt stellenweise vielmehr grotesk-komische Züge an. Beispielsweise wenn der kleine Sohn einer Performerin zum Schutz vor den Anderen in einen mit gefährlichen Hochspannungsleitungen ausgestatteten Umspannraum eingeschlossen wird. Zu seiner eigenen Sicherheit, wohlgemerkt. In diesen improvisierten Szenen offenbaren sich die bescheidenen schauspielerischen Fähigkeiten der Darsteller. Sie beherrschen ihre Körper hervorragend, agieren mit Worten allerdings unbeholfen und wirken in ihren Rollen austauschbar.

Andererseits funktioniert das koordinierte Chaos wiederum, wenn sich eine der Tänzerinnen im Delirium zu den Klängen von Aphex Twins „Windowlicker“ in einem abgeschiedenen Raum mit Krämpfen auf dem Boden windet, fast so wie Isabelle Adjani in der berühmten U-Bahn-Tunnel-Szene aus „Possession“ (1981). In diesen Momenten zeigt sich die Kraft der kunstvoll arrangierten Finsternis, die dem Genre-Kino zur Zeit mit Panos Cosmatos‘ „Mandy“ und Luca Guadagninos „Suspiria“ (hier unsere Kritik „Hexenzirkel der Neuverfilmungen“ zum Film) neue Impulse verleiht. Es scheint jedenfalls so, als wolle Gaspar Noé hier das ambivalente Gefühl eines Acid-Trips zwischen assoziativer Faszination und panischem Kontrollverlust auf Film bannen. Darauf deutet zumindest ein kleines Indiz in der letzten Einstellung von „Climax“ hin. Wie bei jedem seiner Filme lässt sich am Ende getrost feststellen, dass es so etwas in dieser Form bisher noch nie zu sehen gab. Ob man diese Erkenntnis nun gut oder schlecht findet, liegt dabei ganz im Auge des Betrachters.

Henning Koch

„Climax“, Regie: Gaspar Noé, Darsteller: Sofia Boutella, Romain Guillermic, Souheila Yacoub, Kiddy Smile, Claude Gajan Maull, Kinostart: 06. Dezember 2018

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