DAS MÄDCHEN MIT DER NADEL von Magnus von Horn


DAS MÄDCHEN MIT DER NADEL © MUBI
DAS MÄDCHEN MIT DER NADEL © MUBI

Engelmacherin

Dänemark am Ende des I. Weltkriegs. Die Zeiten sind hart. Jeder schaut auf das eigene Fortkommen. Niemand hat etwas zu verschenken. Die Näherin Karoline (Vic Carmen Sonne) wird aus ihrem Loch von einer Wohnung geworfen, da sie für die Miete nicht aufkommen kann, nur, um in eine noch schäbigere Unterkunft zu ziehen. Ihr Mann ist verschollen, vermutlich gefallen. Doch da kein Totenschein vorliegt, steht ihr auch keine Witwenrente zu. Karoline beginnt eine Affäre mit dem freundlichen Fabrikbesitzer Jørgen. Der schwängert sie. Eine Ehe aber, soviel stellt Jørgens Mutter als Matrone alten Schlags unbarmherzig klar, kommt nicht in Frage. Auf sich allein gestellt, versucht Karoline mit einer langen Stricknadel eine Abtreibung vorzunehmen, die misslingt. Da bietet eine freundliche Dame Hilfe. Dagmar unterhält einen kleinen Süsswarenladen, betreibt aber heimlich ein lukrativeres Geschäft. Sie vermittelt gegen eine Gebühr ungewollte Kinder zur Adoption. Das ist zwar illegal, doch werden Dagmars Dienste von Vielen gebraucht. Auch Karoline nimmt sie in Anspruch, freundet sich dann aber mit Dagmar an, beginnt für sie zu arbeiten und zieht schließlich bei ihr ein. Alles läuft gut, bis Karoline eines Tages auf eine schockierende Wahrheit stößt. 

DAS MÄDCHEN MIT DER NADEL ist ein Film, bei dem der Kontrast von Form und Inhalt nicht größer sein könnte. In wunderschönen Schwarzweiß-Bildern im klassischen Akademieformat zeigt der Film eine Gesellschaft der brutalen sozialen Gegensätze, die einem Roman Charles Dickens’ entsprungen scheint. Der Traum vom Leben mit Jørgen in einem opulenten Herrenhaus platzt für Karoline, kaum das er begonnen hat. In ihre erbarmungswürdige Existenz zurückgeworfen, ist sie bereit, alles zu tun, für die Möglichkeit, Dagmars kleinbürgerliche Existenz zu teilen. Fast alles.

Magnus von Horn greift in seinem zweiten Spielfilm die Geschichte einer der bekanntesten Serienmörderinnen des 20. Jahrhunderts auf. Dagmar Overby, selbst aus schwierigen Verhältnissen stammend, hatte ab 1916 zahlreiche Kleinkinder – oft nur wenige Tage oder Wochen alt – zur angeblichen Adoptionsvermittlung übernommen. Nach ihrer Verhaftung im Jahr 1920 fand man in ihrem Haus und dem anliegenden Garten die Überreste von mindestens 25 Opfern. Dargestellt wird Overby vom dänischen Superstar Trine Dyrholm, die Overby aber nicht als Scheusal, sondern als resolute, aber auch fürsorgliche Mutterfigur porträtiert. Overbys Motive bleiben im Dunkeln. Doch legt der Film nahe, dass sie auch in den katastrophalen zwischenmenschlichen Verhältnissen ihrer Zeit zu suchen sind. Nur wenige Jahre nach dem Aufsehen erregenden Fall, begann sich die konservativ-dogmatische dänische Gesellschaft zu liberalisieren, wurde das Adoptionsrecht geändert, begann man den Umgang mit unehelichen Kindern zu überdenken. 

DAS MÄDCHEN MIT DER NADEL, Dänemarks diesjähriger Oscarkandidat, ist alles andere als ein Feelgood-Movie. Gewundene Pflastersteinstraßen, windschiefe Gebäude und dampfende Badehäuser, aufgenommen in kontrastreichem Helldunkel (Kamera: Michał Dymek/Ausstattung: Jagna Dobesz), erinnern an das expressionistische Kino der Weimarer Republik. Der Horror des Weltkriegs taucht in Gestalt von Karolines Ehemann, der sein entstelltes Gesicht unter einer steifen Maske verbergen muss, doch noch auf. Er spiegelt sich aber auch in Dagmars Taten, die den Wert eines ungewollten Lebens im Angesicht des millionenfachen Sterbens an der Front nicht erkennen kann. Wie ein modernes Märchen erzählt der Film eine grausige Moritat, die gewiss nichts für Zuschauer mit schwachen Nerven ist. Wer aber bereit ist, sich auf diese verstörende Geschichte einzulassen, wird feststellen, dass soziale Errungenschaften und feministisches Bewusstsein allemal zu den verteidigungswertesten Aspekten unserer modernen Gesellschaft gehören sollten.

DAS MÄDCHEN MIT DER NADEL läuft seit dem 9. Januar im Kino.

Mögliche Oscarnominierungen: Bester Internationaler Film, Kamera.

PIGEN MED NÅLEN, Regie: Magnus von Horn, Darsteller_innen: Vic Carmen Sonne, Trine Dyrholm, Besir Zeciri, Ava Knox Martin, Joachim Fjelstrup, Ari Alexander u.v.a.