„Das merkwürdige Kätzchen“ von Ramon Zürcher


Szene aus dem merkwürdigen Berlinale-Überaschungshit "Das merkwürdige Kätzchen". Foto: Alexander Haßkerl.

Szene aus dem merkwürdigen Berlinale-Überaschungshit "Das merkwürdige Kätzchen". Foto: Alexander Haßkerl.

Die Glasflasche ist die Schwester der Wurst

Eine Küche, eine Familie. Die kleine Clara (Mia Kasalo), die jedes Wort, jede Zahl, akribisch und meist völlig falsch aufschreibt und mit weit aufgerissenem Mund fröhlich schreit, sobald die Kaffeemaschine wieder rattert. Die große Schwester Karin (Anjorka Strechel), die Orangenschalen auf den Boden wirft, um zu überprüfen, ob sie wirklich immer mit der weißen Seite nach oben landen. Die Mutter (Jenny Schily), die leicht überspannt wirkt und glasige Augen bekommt, „weil sie Zwiebeln schneidet“. Des Weiteren treten auf: diverse weitere Familienmitglieder inklusive der dauernd schlafenden Oma, dem Waschmaschinen reparierenden Onkel, dem schlappohrigen Hund, mit dem niemand spielen will, ein Nachbarsjunge mit traurigen Augen, eine Taube, eine Ratte, ein dicker Falter und – natürlich – das merkwürdige, rotgeringelte Kätzchen.

Das einzige, was an dem ersten abendfüllenden Spielfilm des Schweizers Ramon Zürcher so gar nicht merkwürdig ist, ist das Kätzchen. Es schnurrt, streift durch die Wohnung, springt auf den Küchentisch. Was ein Kätzchen halt so tut. Neben tatsächlichen Alltagsgesprächen – „Wie hast du geschlafen?“, „Hat Simon Oma schon abgeholt?“, „Papa wartet unten“ – sind die meisten Dialoge der Figuren so seltsam präzise und wohl überlegt, dass das Gesprochene völlig deplatziert wirkt in diesem Raum, wo die Familie zusammenkommt, und man als Zuschauer das Gefühl hat, am Küchentisch zu sitzen und „Mäuschen zu spielen“. Vielmehr ist es ein Kammerspiel, in dem jede Bewegung, jedes Wort, jeder Gegenstand genau platziert ist. Alles bekommt einen Rhythmus. Eine sich wackelnd im Kreis drehende Glasflasche in einem Kochtopf, die im Verlaufe des Films zur „Schwester der Wurst“ wird, weil sie so plötzlich mit ihrem von Kohlensäure befeuerten Deckel die Glühbirne der Küchenlampe zerschießt, so plötzlich wie zuvor die Wurst beim Aufschneiden einen Strahl Wurstwasser auf ein frischgewaschenes Hemd platzierte. Die auf Knopfdruck schreiende Clara und auch der Nachbarjunge, der von der Straße aus versehentlich seinen Ball durchs Küchenfenster schießt, diesen nicht wiederbekommt, und in fast schon melodischen Weise ruft: „Mein Ball!“, „Kann ich meinen Ball zurückhaben?“, „Hallo, mein Ball!“, „Mein Ball!!!“ Kommt zwischenzeitlich ein warmes Gefühl für diese Patchworkfamilie in einer Berliner Altbauwohnung auf, so sind es doch die Dialoge, die nicht als kommunikatives Element eingesetzt werden, sondern um die Figuren zu isolieren. Als die fröhliche kleine Clara erzählt, dass sie die Spatzen nun nicht mehr füttern wird, weil diese beim letzten Mal nicht zu ihr gekommen sind, sagt die Mutter, wohl überlegt: „All die armen Spatzen, die deinetwegen sterben werden.“ Ja, Worte können eine Waffe sein.

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